Mohammed Zahir Schah war von 1933 bis 1973 König. Vor 50 Jahren beendete ein Putsch diese Phase relativer Stabilität und zaghafter Reformen in Afghanistan. Seither befindet sich das zentralasiatische Land praktisch durchgehend im Bürgerkrieg – oder unter Besatzung.

John Micelli

 

Wer den fast 5000 Meter hohen Wakhjir-Pass überschreitet, macht einen Zeitsprung: Dreieinhalb Stunden beträgt der Unterschied an der Staatsgrenze im Hochgebirge zwischen China, das im ganzen Riesenreich die Uhren nach Peking richtet, und Afghanistan in der eigenen Zeitzone «Afghanistan Time» (AFT). Dass die Volksrepublik und das «Islamische Emirat» aufeinandertreffen, ist der Rivalität zweier ehemaliger Kolonialmächte zu verdanken. Das zaristische Russland hatte im 19. Jahrhundert Zentralasien unterworfen und drängte weiter zum Indischen Ozean. Diesem Ansinnen stellte sich das britische Empire entgegen, das sich 1858 den indischen Subkontinent als Kronkolonie aneignete. Um eine gemeinsame Grenze der beiden Grossmächte zu vermeiden, erhielt das als Pufferstaat fungierende Afghanistan den Wakhan-Korridor, ein 300 Kilometer langer und zwischen 17 und 60 Kilometer breiter, praktisch menschenleerer Landstrich im Hochgebirge. Aus der afghanischen Stadt Ischkaschim auf 2600 Metern Höhe nach Taxkorgan im uigurischen autonomen Gebiet Xinjiang in China führen nur unbefestigte Karawanenwege. Die Zeitreise auf der Passhöhe ist also nur etwas für verwegene Abenteurer und Abenteurerinnen. Der soziale und wirtschaftliche Rückstand Afghanistans aber ist nach einem halben Jahrhundert im Kriegszustand und der erneuten Machtübernahme der Taliban vor zwei Jahren im ganzen Land sichtbar: Nach Angaben der UNO leben 97 Prozent der Bevölkerung in Armut, die Rechte von Minderheiten, Frauen und Mädchen werden massiv verletzt, letztere sind systematisch vom öffentlichen Leben ausgeschlossen.

 

An der Macht

Der Gebietsgewinn im Norden aber machte den Verlust im Süden während des «The Great Game» genannten Konflikts zwischen Russland und dem Vereinigten Königreich nicht wett: Etwa ein Drittel des Staatsgebietes rangen die Briten Afghanistan ab, als sie 1893 die sogenannte Durand-Linie als nördliche Begrenzung ihrer Einflusssphäre durchsetzten. Die knapp 2500 Kilometer lange Demarkationslinie teilt das Siedlungsgebiet der Paschtunen und führte dazu, dass heute mehr «Afghanen» in Pakistan leben als in Afghanistan: Afghān ist die persische Fremdbezeichnung für die Volksgruppe, die mit Paschtu selbst ein Idiom aus der iranischen Sprachfamilie spricht. Obwohl aber das eigentliche Staatsvolk nur noch gut 40 Prozent der Bevölkerung stellt, blieb die Macht in Afghanistan auch nach dem «Grossen Spiel» in den Händen paschtunischer Fürsten. Angefangen bei Amanullah Khan, der für das Land im dritten Anglo-Afghanischen Krieg 1919 die Unabhängigkeit errang und der sich um eine soziale und politische Modernisierung nach dem Vorbild der Türkei bemühte – bis hin zu Mohammed Zahir Schah aus der Dynastie der Mohammedzai, der als letzter König Afghanistans in die Geschichte einging. Am 8. November 1933 bestieg der Prinz mit 19 Jahren den Thron, nachdem sein Vater Mohammed Nadir einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war. Eigentliche Macht aber besass der König bei Amtsantritt noch keine – die lag vorerst bei seinem Onkel Mohammed Haschim Khan, der als Ministerpräsident das Land bis 1946 autoritär führte. Auf ihn folgte ein weiterer Onkel – Schah Mahmud Khan – und schliesslich ab 1953 der Cousin Mohammed Daoud Khan. Der allerdings scheiterte an seiner kompromisslosen Haltung im Streit um die paschtunischen Siedlungsgebiete südlich der Durand-Linie: Seit der Unabhängigkeit Pakistans forderte Afghanistan eine Wiedervereinigung. 1961 schloss Pakistan die Grenzen und machte den Nachbarn für Transit und Handel komplett von der Sowjetunion abhängig. 1963 beugte sich der Premierminister dem Wunsch des Königs und trat zurück. 1964 verabschiedete die Loja Dschirga – die «Grosse Versammlung» von Stammes- und religiösen Führern, Mitgliedern der Königsfamilie, militärischem Kader und Regierungsangehörigen – eine neue Verfassung und entwickelte Afghanistan zur konstitutionellen Monarchie. Mit neuen Befugnissen ausgestattet, machte sich Zahir Schah daran, die in den 1920er-Jahren begonnenen Reformen fortzusetzen.

 

Blockade

Im August und September 1965 wurden erstmals demokratische Parlamentswahlen abgehalten. Schon davor hatte der König alle Mitglieder der Königsfamilie aus politischen Ämtern entfernt. Die neue Verfassung orientierte sich am Vorbild westlicher Demokratien – Frauen erhielten sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht: Die Frauenrechtlerin Kubra Noorzai wurde am 1. Dezember 1965 als Gesundheitsministerin erstes weibliches Regierungsmitglied Afghanistans. Die Verabschiedung eines Gesetzes zur Pressefreiheit hatte die Gründung zahlreicher Zeitungen zur Folge und führte zu einer in Afghanistan bis dahin unbekannten Meinungsvielfalt. Zahir Schah begann auch die veraltete Infrastruktur des Landes zu modernisieren. In der Aussenpolitik setzte er auf strikte Neutralität – innenpolitisch betrachtete er sich in den Verhandlungen mit den Stammesführern als Erster unter Gleichen. Diese Rücksicht führte allerdings auch zu schmerzhaften Blockaden: Ein Gesetz, das die Gründung politischer Parteien ermöglicht hätte, Erlasse zur Dezentralisierung und die Errichtung eines unabhängigen obersten Gerichtshofs blieben liegen. Die Stagnation des Reformprozesses und die daraus resultierende Unzufriedenheit mit dem König nutzte der vormalige Premier Daoud Khan im Juli 1973 und stürzte den zu einem Kuraufenthalt in Italien weilenden Cousin. Um ein Blutvergiessen zu vermeiden, dankte Mohammed Zahir Schah am 24. August ab und blieb im Exil, Afghanistan versank zunehmend im Chaos. Erst 2002 kehrte der König in die Heimat zurück – konnte allerdings die in ihn gesetzten Hoffnungen auf eine nationale Versöhnung nicht mehr erfüllen. Er verstarb fünf Jahre später nach langer Krankheit in Kabul.