Acht Wochen nach dem Tod der kanadischen Schriftstellerin Alice Munro sorgte deren Tochter Andrea Robin Skinner für grosses Aufsehen. Sie ging in einem Zeitungsartikel mit ihrer traumatisierenden Familiengeschichte an die Öffentlichkeit. Alice Munro, die 2013 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wird von ihrer Tochter schwer belastet. Wie soll man damit umgehen?
Christa Miloradovic-Weber
Es ist dieses Quäntchen Selbstermächtigung oder Egoismus (Erich Fromm nannte es die gesunde Aggression), die eine Schriftstellerin braucht, um berühmt zu werden. Sie muss sich mit ihren Texten gegen die tausend Anforderungen des Familienlebens, Widrigkeiten des Alltags sowie in Verlag und Literaturszene gegen die überwältigende männliche Konkurrenz durchsetzen.
Die Mutter von Alice Munro verfügte nicht über diese Rücksichtslosigkeit. Dank ihrer Intelligenz, ihrem Durchhaltevermögen arbeitete sie sich von einer verarmten Farmerstochter zur Primarlehrerin auf dem Land empor. Und mit Anfang 30 heiratete sie einen entfernten Verwandten, der Pläne hatte, dem sie dann grossherzig das Geld für die eigene Pelzfarm vorschoss. Danach führte sie ein äusserlich konformes Leben als Farmersfrau mit drei Kindern am Rande einer Kleinstadt. Das Höchste, was sie erreichen konnte, wenn sie bei diesem Mann bleiben wollte, der infolge der unzähligen Wirtschaftskrisen seine Fuchszucht bald aufgeben musste, war, eine gute Mutter und die Frau eines anständigen Mannes zu sein, der in der Fabrik schliesslich als Pförtner arbeitete.
Zuvor hatte sie ein grosses Erfolgserlebnis, als sie in einem teuren Hotel in einem Kurort Fuchspelze verkaufte. Das war offenbar eine Tätigkeit, die Alice Munros Mutter gerne ausübte, die Tochter jedoch verachtete, wie so vieles, was ihre Mutter tat, obwohl sie von ihr spannenden Stoff (Werdegang, Beobachtungen) für eigene Erzählungen erhielt. Da lobte sie in späten Jahren doch lieber ihren Vater für sein Familienepos, das er im Alter schrieb. Ihrer Mutter hingegen war kein hohes Alter vergönnt, sie erkrankte Mitte 40 an Parkinson und erlebte einen rapiden Verfall. In Alice Munros Kurzgeschichten fällt auf, dass in schwierigen Verhältnissen lebende Mütter, die daraus das Beste zu machen versuchen und sich dabei für ihre Kinder aufopfern, nicht, wie man erwarten würde, gelobt und gewürdigt, sondern bei diesen Versuchen gar ironisiert werden.
Durchsetzungsvermögen
Im Unterschied zu ihrer Mutter besass Alice Munro das oben erwähnte Quäntchen Rücksichtslosigkeit, gerade auch dieser Mutter gegenüber, die als hinfällige Kranke in ihren letzten Jahren zunehmend auf die Teenager-Tochter angewiesen war. Dank eben dieses Durchsetzungs-vermögens, ihrer Spottlust, ihres Egoismus wurde sie zu der weltbekannten Autorin, die viele schätzen. Auch über sich selbst hat sie sich in ihren Geschichten oft lustig gemacht. Als sie später als gefeierte Autorin weg von ihrer Familie an der Westküste zu einem neuen Mann, einem Kommilitonen aus Studienjahren, nach Ontario zog, bewies sie auch diesbezüglich den Willen zur Eigenständigkeit. Einen zur Rücksichtslosigkeit gesteigerten Egoismus zeigte die unterdessen weltberühmte Schriftstellerin, als ihre jüngste Tochter Andrea später ihre Hilfe gebraucht hätte. Am 7. Juli .2024 warf Andrea Skinner in einem grossen Essay in der Tageszeitung Toronto Star ihrer Mutter vor, dass diese nichts unternommen habe gegen die sexuellen Übergriffe des Stiefvaters, die sie bei ihren Besuchen bei der Mutter ab neun Jahren habe erleiden müssen. Merkwürdig erscheint jedoch, dass der Vater von Andrea Skinner, also James Munro, die frühen Berichte seiner Tochter nicht an seine Ex-Frau weitergeleitet hat, Alice Munro mithin erst Jahre später davon erfuhr, als ihre Tochter bereits 25 Jahre alt war. Dann stimmte die Autorin allerdings in den Tenor ihres zweiten Mannes mit ein: Die neunjährige Andrea habe ihn damals verführt. Der berühmten Mutter zuliebe hielt die unter Bulimie und Migräne leidende Tochter ihre Anschuldigung weitere Jahre zurück. Erst als Alice Munro ihren zweiten Mann, damals bereits 80 Jahre alt, in einem Interview wieder einmal öffentlich als Ritter und Held dargestellt hatte, platzte der Tochter der Kragen. 2005 zeigte sie ihn an, und er wurde zu zwei Jahren Haft mit Bewährung verurteilt.
Historische Einordnung
Das Ganze historisch einzuordnen heisst nicht, das Verhalten von Alice Munro zu verharmlosen. Im Gegenteil. Dennoch sollte auch die Epoche beleuchtet werden, in der das Drama für Alice Munros Tochter Andrea Skinner begann (1976). Im Zuge der sogenannten «Enttabuisierung der Sexualpädagogik» grassierte in den Siebziger-/Achtzigerjahren nicht nur in Übersee, auch in Europa eine teils gänzlich enthemmte Pädagogik, in der erotische Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern als «gewaltfrei» definiert wurden, was manchem Pädophilen in die Hände spielte – siehe den in den Neunzigern aufgedeckten Skandal um die hessische Odenwald-Schule. Die Neunziger gelten dann jedoch als Jahre der rigideren Verfolgung von Pädokriminellen. Auch Schutzaufträge von Pädagogen wurden schrittweise ausgeweitet. 2017 kamen der mutige Artikel des Sohnes der Schauspielerin Mia Farrow, Ronan Farrow, Anwalt und Journalist (Pulitzer-Preis 2017), hinzu sowie die Berichte vieler Schauspielerinnen und Schauspieler in den Medien und im Prozess gegen Harvey Weinstein (Me-too-Debatte), was neben der intensivierten Verfolgung der Pädophilie weltweit zu einer Stärkung der Opferseite führte.
Als Alice Munro 2013 den Nobelpreis erhielt, konnte sie sich wohl nicht lange daran erfreuen, auch wenn sie erst diesen Mai starb. Ihr Versagen gegenüber der eigenen Tochter könnte dazu geführt haben, dass die Demenz, unter der sie im Alter offenbar litt, rascher um sich griff, als es hätte sein müssen. Ihr Leben an der Seite eines Straftäters musste sie sich vermutlich seit seiner Verurteilung schönreden, was gerade für eine Autorin, die gerne analysierte, sicherlich nur mit massiver Verdrängungsleistung gelang. Dass sie sich, wie ursprünglich geplant, nicht neben ihrem Lebensgefährten begraben liess, war dann wohl ihr definitives Statement.