Es mutet römische Katholikinnen und Katholiken seltsam an, dass ein König in der heutigen Zeit Oberhaupt einer Kirche sein kann. Das ist bei der Anglikanischen Kirche mit etwa 80 Millionen Mitgliedern der Fall. Nach dem Tod von Königin Elizabeth steht ihr Sohn Charles der Kirche vor. Welche Aufgaben hat er?
Stephan Leimgruber
Bereits in Ansprachen betonte der 74-jährige König Charles III. seine tiefe Verwurzelung in der «Church of England» und seine Bereitschaft, auch künftig Verantwortung in ihr zu übernehmen. Er beabsichtigt darüber hinaus, allen Religionen, Konfessionen und Kulturen gegenüber offen und tolerant zu sein. Der Islam fasziniert ihn besonders.
Die Anglikanische Kirche ist 1521 aus der Reformation hervorgegangen, als England gegenüber der Römischen Kirche Widerstand leistete. Bereits im 14. Jahrhundert gab es reformatorische Kräfte wie John Wyclif (1330–1384), aber Heinrich VIII. schaffte mit seiner Zweitheirat den offiziellen Anlass zur Trennung. 1534 erklärte ihn das englische Parlament zum Oberhaupt der Kirche Englands. Theologisch vereinigt die Anglikanische Kirche Elemente aus verschiedenen Konfessionen: aus dem Calvinismus, der Kirche Zwinglis und vom römischen Katholizismus, ohne jedoch ein einheitliches Credo oder Bekenntnis vorzulegen. Grundlegend sind den Anglikanern die Heilige Schrift, das apostolische Glaubensbekenntnis und die vier ersten grossen Konzilien. Gemeinsam ist ihnen ein englischsprachiges Gebetbuch (1549) für alle Anglikanischen Kirchen, die besonders in englischsprachigen Gebieten entstanden sind: in Australien, Kanada, Korea, Afrika, Neuseeland, Papua-Neuguinea und in Südamerika. Insgesamt gibt es heute 41 nationale Anglikanische Kirchen und in vielen Ländern anglikanische Gruppierungen bzw. Teilkirchen. König Charles III. hat die Befugnis, die leitenden Bischöfe und Erzbischöfe zu ernennen. In der Schweiz stand Arthur Siddall von 2007 bis 2009 der Anglikanischen Kirche vor.
Insgesamt lehnt sich die Anglikanische Kirche stark an die reformatorischen Kirchen an. Sie hält an den Hauptsakramenten Taufe und Eucharistie fest. Die Bibel spielt eine unhintergehbare Rolle, ebenso Rituale wie Konfirmation und Trauung, nicht aber Busse und Krankensalbung. Gleichzeitig hat sie Elemente aus der römisch-katholischen Tradition angenommen, wie das dreigestufte Amt (Diakon, Priester und Bischof), die Verehrung von Märtyrern und Heiligen (Thomas Morus, 1478–1535) und das Stundengebet der Priester. Nach 300 Jahren Verbot sind neuerdings auch anglikanische Frauen- und Männerorden wieder möglich. Gleichwohl versteht sie sich nicht als hierarchisch gegliedert, da jede Nationalkirche ihre Eigenständigkeit bewahrt. Wenn immer möglich, gibt es bei Entscheidungen eine Mitbestimmung der Laien. Die Anglikanische Kirche ist Mitglied des Ökumenischen Rats der Kirchen, wobei sie intensive ökumenische Gespräche mit den Orthodoxen Kirchen und den Christkatholiken führt. (Diese beiden Kirchen respektieren auch den Anspruch der Anglikanischen Kirche, in der Apostolischen Sukzession zu stehen, was die römisch-katholische Kirche indessen nicht annimmt.) Die Anglikanischen Kirchen haben verschiedene Leitungsinstrumente: die Synoden, die Lambeth-Konferenz (alle zehn Jahre) und eine geistliche Oberhauptstellung des Erzbischofs von Canterbury. Ähnlich wie in der römisch-katholischen Kirche sind die farbigen liturgischen Gewänder.
In zwei Punkten zeigt die Anglikanische Kirche deutliche Lehrdifferenzen: nämlich in der Frage der Frauenordination und in der ethischen Beurteilung der Homosexualität. Zahlreiche Nationalkirchen haben mittlerweile Bischöfinnen erwählt und geweiht, nachdem die Diakonenweihe und die Priesterweihe für Frauen möglich geworden sind. Aber es gibt keine einheitliche verpflichtende Lehre zur Frauenordination in der Anglikanischen Kirche. Eine Mehrheit der Nationalkirchen tritt für die Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren ein und gesteht auch ordinierten Pfarrern und Pfarrerinnen dieses Recht zu. Anlässlich der Bischofsweihe von Gene Robinson am 2. November 2003 in New Hampshire, USA, traten offene Meinungsverschiedenheiten auf mit der Folge, dass der Diskussionsprozess zu diesem Thema noch nicht abgeschlossen ist.