Das beidäugige Sehen ist wichtiger als angenommen. Aufgrund zunehmend verkrampfter Augen kommt es jedoch in diesem Punkt leicht zu Falschbeurteilungen. Das hat bei Brillenträgerinnen und -trägern Folgen.

von Anton Ladner

Gaby Waeber arbeitet seit 13 Jahren in der Zürcher Augenarztpraxis Zürichberg als Orthoptistin. Sie ist Therapeutin für Schielen und Augenmuskellähmungen und kann bei entsprechenden Beschwerden ganz gezielt helfen. Ihr Beruf hat bisher einen Seltenheitswert, denn pro Jahr erlangen keine zwei Dutzend ein Berufsdiplom als Orthoptist oder Orthoptistin. Das könnte sich aber in Zukunft ändern, denn durch die Digitalisierung der Arbeit und der Freizeitgestaltung wird die Orthoptik wichtiger.

«Wir stellen fest, dass auch junge Menschen vermehrt an asthenopischen Beschwerden leiden», sagt Gaby Waeber (vgl. Kasten). «Wenn die Augen stark belastet werden, kann es zu Kopfschmerzen, Augenbrennen oder Druckgefühl kommen.» Während der Zwangsschliessungen durch die COVID-19-Pandemie hat vor allem bei Jugendlichen der Smartphone-Konsum stark zugenommen. «Die stundenlange Fokussierung auf einen kleinen Bildschirm kann zu einer Verkrampfung der Augenmuskeln führen.» Das könne nicht nur das Sehvermögen beeinträchtigen, sondern auch das allgemeine Wohlbefinden, gibt die Orthoptistin zu bedenken. Unkorrigierte oder nicht ausreichend korrigierte Fehlsichtigkeiten oder fehlerhafte Korrektionen können die Verkrampfung der inneren Augenmuskeln noch akzentuieren.

Richtige Messung ist entscheidend
Die verkrampfte Augenmuskulatur ist im Gespräch mit der Orthoptistin ein Schlüsselwort. Denn eine Verkrampfung kann auch zu einem falschen Brillenrezept führen – mit unangenehmen Folgen. «Es ist deshalb wichtig, dass die Prüfung der Brechkraft der Augen bei vergrösserten Pupillen und entsprechend entspannten Augenmuskeln erfolgt», sagt Gaby Waeber. Es werde immer noch unterschätzt, dass verkrampfte Augenmuskeln zu Fehlmessungen oder schwankenden Resultaten führen.

Ziel der Orthoptik ist es, volle Sehkraft durch beidäugiges Sehen zu erlangen und zu erhalten. Was selbstverständlich klingt, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit – weder bei Kindern noch Senioren. KeinKind ist zu klein, um untersucht zu werden und damit einen Sehfehler oder eine Schielstellung frühzeitig abzuklären. Ein gestörtes Augenmuskelgleichgewicht (Heterophorie) kann nämlich Doppelbilder hervorrufen. Da heute die zunehmende Digitalisierung mit einer entsprechenden Belastung der Augen ein Fakt ist, empfiehlt Gaby Waeber Pausen vom konstanten Nahfixieren. Der Blick soll für zwei Minuten in die Weite schweifen, um durch das Geradeaussehen die Augenmuskulatur zu entspannen. «Solche regelmässigen Pausen sind vor allem dann wichtig, wenn man stundenlang am Bildschirm arbeitet.» Da ab einem gewissen Alter die Akkomodationsfähigkeit, die Naheinstellungsfähigkeit der Augen, nachlässt, beginnt man im Nahbereich weniger scharf zu sehen. Der normale Leseabstand kann nicht mehr eingehalten werden und eine Lesebrille wird notwendig. In solchen Fällen empfiehlt sich eine auf die jeweilige Distanz angepasste Computer-Arbeitsbrille für jene Personen, die viel am Bildschirm arbeiten.

Ursachen asthenopischer Beschwerden
Übermässige Beanspruchung des gesunden Auges etwa durch lange Naharbeit in zu kurzem Arbeitsabstand, Tätigkeit am Bildschirm mit ungeeigneten Brillen, längere Arbeit unter ungünstigen Beleuchtungsverhältnissen, falsch angebrachte Leuchtkörper, mangelhafter Licht- und Schattenkontrast oder zu intensive Lichteinwirkung, Blendung oder irritierende Reflexe.

Finden sich keine äusseren Ursachen als Erklärung für asthenopische Beschwerden, handelt es sich meist um ein rein funktionelles Problem, ausgelöst durch nervöse Erschöpfungszustände oder psychische Belastungen. Auch darüber kann nur die augenärztliche Diagnose Aufschluss geben. Laut einer Umfrage bei deutschen Augenärzten kommen pro Woche im Durchschnitt 12,9 Patienten ausschliesslich oder vorwiegend wegen Kopfschmerzen zum Augenarzt – hochgerechnet auf alle Augenärzte in Deutschland sind das 2,5 Millionen Kopfschmerzpatienten pro Jahr.