«Es kann wieder passieren»
Der Priester Manfred Deselaers lebt in der Pfarrgemeinde St. Mariae Himmelfahrt in Auschwitz und macht seit 1994 Führungen in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. 1998 absolvierte er eine Ausbildung zum Holocaust Educator in Yad Vashem, Jerusalem. Ihm geht es um die christlich-jüdische Versöhnungsarbeit.
Anja Boromandi
Manfred Deselaers, wer kommt zu Ihnen in die Begegnungsstätte und wie bereiten Sie die Menschen auf den Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers vor?
Zu uns kommen Erwachsenengruppen aus der ganzen Welt genauso wie Schulklassen, meistens bleiben sie ein paar Tage für einen Besinnungsaufenthalt bei uns. Wir haben hier 150 Übernachtungsplätze und vor der Besichtigung versuche ich, sie auf das, was sie erwartet, vorzubereiten.
Zunächst einmal mache ich ihnen klar: Wir sind in Oświęcim. Auschwitz gibt es nicht mehr, das war der deutsche Name, den die Nationalsozialisten diesem Ort gegeben haben. Diese Zeit ist vorbei, aber es ist unsere Verantwortung, daran zu erinnern, was vor 80 Jahren passiert ist, und dafür zu sorgen, dass es nicht wieder passiert. Auschwitz ist die Frucht einer antijüdischen, rassistischen Weltanschauung. Wer sich nicht mit der Ideologie der Nazis auseinandersetzt, kann Auschwitz nicht verstehen. Tatsache ist: Die Eltern und Grosseltern der heutigen Schülerinnen und Schüler gehören nicht mehr zur Tätergeneration. Kennen diese Jugendlichen noch ihre Urgrosseltern? Nein. Das bedeutet, der biografische Draht ist in der Regel nicht mehr da, darum ist Auschwitz als Mahnmal umso wichtiger. Nach der Besichtigung nehme ich mir Zeit für ein Gespräch.
Wie reagieren die Besucher und Besucherinnen nach dem Rundgang?
Betroffen. Doch für Deutsche ist es eine andere Betroffenheit als für Polen oder Israelis. Zumindest die Älteren von ihnen werden automatisch mit der Frage nach der eigenen Biografie konfrontiert. Wo waren meine Eltern, Grosseltern, inwiefern waren sie verantwortlich? Die Erinnerung der Polen an diese Zeit ist eine völlig andere, für sie war es die der Besetzung und des Widerstands, für Juden ist Auschwitz die Erinnerung an totale Vernichtung. Ein Trauma, das durch den Besuch neu berührt wird. Überlebende schilderten mir manchmal, dass sie betroffen hineingegangen und nach dem Besuch erleichtert herausgekommen seien,
mit dem Gefühl: Es ist vorbei und ich kann mich freuen, am Leben zu sein.
Was für Fragen werden Ihnen gestellt?
Ich werde von Deutschen oft gefragt, warum die Erklärtafeln auf dem Gelände nur auf Englisch und Polnisch beschriftet seien und nicht auf Deutsch. Viele vermuten, dass Deutsch einfach nicht erwünscht sei. Doch der Hintergrund ist ein anderer: Englisch ist einfach die Weltsprache und Polnisch die Landessprache. Es gibt auch keine Beschriftung auf Italienisch etc. Die polnische Bevölkerung ist jedenfalls sehr dankbar, dass Deutsche hierherkommen, denn nur so kann neues Vertrauen zwischen den Völkern entstehen. Und das geht nur durch neue Erfahrungen, durch Dialog und Beziehungen. Verdrängen und Schweigen sind keine Lösung, deshalb ist der Besuch vor Ort vor allem für junge Leute so wichtig, um erwachsen zu werden. Als deutscher Priester in Auschwitz schäme ich mich nicht, Deutscher zu sein, die ehemaligen Häftlinge respektieren mich, weil ich ihre Wunden ernst nehme. Sie versichern mir oft: «Ihr sollt euch nicht schuldig fühlen, sondern euch eurer Verantwortung bewusst sein. Nicht depressiv werden, sondern helfen, eine bessere Welt für unsere Kinder zu bauen.»
Spielt die Frage nach Gott dabei noch eine Rolle?
Für die Jugend ist Religion oft kein Thema mehr. Wenn, dann kommt diese Frage nach Gott meist von Älteren. Im Gespräch mit deutschen Christen habe ich manchmal den Eindruck, für sie ist es einfacher, über die Schuld Gottes zu reden als über die eigene Schuldgeschichte.
Und dann sind da die Überlebenden, die mir gesagt haben: «Ohne den Glauben hätte ich nicht durchgehalten.» Symbolisch dafür steht die Geschichte des polnischen Geistlichen Maximilian Kolbe, der sein Leben für einen anderen Mithäftling gegeben hat. Die Häftlinge, die das miterlebt haben, sagen, dass diese Erfahrung so wichtig für sie gewesen sei. Dass es jemanden gegeben habe, der nicht nur an sich gedacht habe, sondern solidarisch war. Jemand, der aus der Kraft des Glaubens gezeigt habe, dass der Sinn des Lebens nicht im Überleben bestehe, sondern im Lieben. In der Nächstenliebe. Kolbe hat gezeigt, dass die Macht des Bösen nicht das letzte Wort hat. Im militärischen Sinne wurde er umgebracht, aber eigentlich hat er gesiegt. Sie konnten ihn nicht brechen, er hat gezeigt, was wahres Menschsein bedeutet. Bei der Begegnung mit ehemaligen Häftlingen sind es vor allem diese Geschichten von Menschlichkeit im Kleinen, die Hoffnung machen, nach Auschwitz nicht
den Glauben, nicht die Hoffnung und vor allem nicht die Liebe zu verlieren. Das ist die Botschaft von hier.
Ist es nicht auch belastend, sich täglich mit dem Thema Auschwitz zu beschäftigen?
Nun, einen Arzt fragt man ja auch nicht: Wie hältst du es aus, immer mit kranken Leuten zu tun zu haben? Die ehemaligen Häftlinge können auch nicht vor der Erinnerung weglaufen, sie denken auch jeden Tag daran. Aber bei meiner Arbeit geht es nicht um den Tod, sondern es geht ums Leben. Ich lebe im Jetzt und sehe meine Aufgabe darin, besonders Schülern zu helfen, ein Bewusstsein für ihre grosse Verantwortung zu bekommen. Die Vergangenheit entfernt sich, aber die Verantwortung bleibt.
Ein Mitarbeiter der Gedenkstätte hat mir kürzlich erzählt, dass jährlich immer noch über 4000 Anfragen von Angehörigen ehemaliger Häftlinge eingehen würden, die nach Informationen über sie recherchieren. Das zeigt: Es geht bei dieser Arbeit um eine lebendige Erinnerung und deshalb um Austausch, um die Begegnung mit Menschen. Wie zum Beispiel mein Kontakt zur Überlebenden Hanna Ulatowska. Mit ihr bin ich befreundet, sie lebt zwar in Texas, aber wir telefonieren einmal im Monat. Während meiner Amtszeit waren auch zwei Päpste hier, zum einen 2006 Papst Benedikt, der das Zentrum eingeweiht hat, und 2016 Papst Franziskus, der den Rahmen des Weltjugendtags in Krakau zu einem privaten Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz nutzte.
Hatten Sie auch schon mal AfD-Anhänger hier?
Bislang hat keiner aus einer meiner Gruppen offen gesagt, dass er die AfD wählt, aber ich habe sehr wohl schon Gäste gehabt, die mit der Situation in Deutschland unzufrieden sind und vor Überfremdung Angst haben. Gerade der Austausch mit diesen Menschen ist wichtig, denn Angst haben heisst ja: Etwas lähmt mich. Da helfen nur Gespräche.
Wie sieht der Alltag in Oświęcim aus?
Ich wohne seit 30 Jahren im Stadtzentrum, in einer Pfarrei, und viele im Ort kennen mich. Die Kinder von damals sind heute erwachsen und Lehrer oder in anderen Berufen. Die meisten nennen mich einfach Priester Manfred, wenn sie mich auf der Strasse sehen. Seit einigen Jahren
entwickelt sich Oświęcim aus dem Schatten von Auschwitz heraus, es gibt viele Veranstaltungen und Feste wie in anderen Städten. Oświęcim darf nicht leiden, auch hier muss ein normales Leben möglich sein. So sehen das auch ehemalige Häftlinge. Heute ist die Gemeinde als «Stadt des Friedens» weltweit mit Metropolen wie Hiroshima vernetzt und pflegt internationale Kontakte durch zahlreiche Begegnungsstätten, Menschenrechtsinitiativen, die hier angesiedelt sind, ebenso wie das jüdische Zentrum oder die Schulen mit ihren Städtepartnerschaften.
Wann haben Sie Ihre Berufung für hier gespürt?
Zunächst einmal durch meine Doktorarbeit über «Gott und das Böse im Hinblick auf die Biografie von Rudolf Höss, dem Kommandanten von Auschwitz», an der ich damals fünf Jahre geforscht und geschrieben habe. Und dann war da der damalige Pfarrer von Oświęcim, der für mich zu einer Art Mentor wurde. Ohne ihn wäre ich vermutlich nicht hier geblieben. Ich beschloss, eine Ausbildung als Guide durch die Gedenkstätte zu machen. Als ich die Prüfung bestanden habe, war das für mich, als ob ich eine Schwelle überschritten hätte, als wäre ich auf die andere Seite gewechselt, und ich hatte seitdem nie mehr ein Fremdheitsgefühl den Überlebenden gegenüber.
Wie lange möchten Sie hier noch arbeiten?
Es gibt zwar kaum noch Zeitzeugen, aber das Thema bleibt. Wir dürfen nicht vergessen, wie gross unsere Verantwortung ist. Es geht nicht vor allem darum, was die «da oben» in den Regierungen machen, sondern was jeder Einzelne von uns macht. Menschen mit offenem Herzen zu begegnen, das ist unsere erste Verantwortung. Ich bin über viele Jahrzehnte in diese Rolle als Seelsorger der deutschen Bischofskonferenz hineingewachsen. Einen direkten Nachfolger habe ich nicht. Die letzte Verlängerung meines Vertrags geht noch bis Mai 2025, dann bin ich 70. Dann gucken wir mal weiter, was passiert.