Was verliert die Gesellschaft, wenn die Religion darin keine Rolle mehr spielt? Dieser Frage geht der deutsche Soziologe Hartmut Rosa in seinem im Dezember erschienenen Buch «Demokratie braucht Religion» nach.

Markus Muff

Die Fragen sind fundamental: «Wohin steuert die Demokratie, wenn die Religion keine Resonanz mehr erzeugt?» Oder: «Worin liegt das Potenzial der Religion für unsere Zukunft als Demokratie?» Ein kleines Büchlein ist nicht in der Lage, erschöpfende Antworten zu präsentieren. Doch ist der Gedankengang des Autors Rosa sehr präzise. Hartmut Rosa beginnt damit, seine Einsicht mitzuteilen, die bei ihm nach langen Jahren der Forschung in der Soziologie gewachsen ist. Er schreibt: «Ich habe tatsächlich öfter festgestellt, dass in kirchlichen Kontexten sehr vieles von dem, was ich mir mühsam als Soziologe zusammenreime, schon vorgedacht und auch vorgelebt wird.»

Das Kriterium, unter dem Rosa die deutschsprachige mitteleuropäische Gesellschaft betrachtet, ist die Resonanz. Mit dem zentralen Begriff Resonanz verbindet der Autor das Bild vom hörenden Herzen.

Wir lassen uns in Resonanz versetzen, zum Beispiel von Musik. Damit die Resonanz ihre positive Wirkung entfalten kann, müssen viele Voraussetzungen stimmen. Rosa fragt sich in dem Zusammenhang, ob unsere Gesellschaft – die er in einem rasenden Stillstand sieht – noch in der Lage sei, in ihrem unbändigen Vorwärtsstreben einen Resonanzraum positiv zu nutzen. Die atemlose, rasende Gesellschaft zahlt einen hohen Preis für ihre selbstgenügsame Dynamik. Die Krisen werden zunehmend mehr und die Selbstverpflichtung zum unabdingbaren ökonomischen Wachstum verschlingt mehr und mehr Energien. Mehrfach bezieht sich Rosa auf Max Weber, der diese Entwicklung als «strukturell und systematisch irrational» bezeichnet.

Geht es bloss um einen Mangel an Rationalität? Nein – die Folge des immer schnelleren Laufes, diese Logik der gesellschaftlichen Entwicklung, stiftet nach Ansicht des Autors systematisch ein Aggressionsverhältnis zur Welt. Das zeigt sich beispielhaft in der Öko-Krise, aber auch in der Politik. Der politisch Andersdenkende wird zum Feind erklärt – eindrücklich sichtbar wird dies am politischen System in Amerika, wo Demokraten und Republikaner sich gegenseitig nur noch blockieren. Die Pandemie habe, so Rosa, ebenfalls zu einer aggressiven Situation geführt, weil die sturen Impfbefürworter ebenso wie die widerstrebenden Impfgegner keine gemeinsame Basis für einen Dialog mehr gefunden hätten. Aggressives Verhalten in unseren Gesellschaften habe sehr deutlich zugenommen in den letzten Jahren, urteilt der Soziologe.

Man tut alles, um den Feind zum Verstummen zu bringen. Burn-outs bei vielen Menschen zeugen davon, dass wir kein gesundes Verhältnis mehr zueinander aufrechterhalten. Besonders leiden der Dialog und das gegenseitige Verständnis. Fazit: Die unüberwindbaren Gegensätze führen bei vielen Menschen dazu, dass sie nicht mehr wissen, was zu tun wäre; mit der Folge, dass die Menschen mit sich selbst unzufrieden werden. Vor einigen Jahrzehnten hätten die Menschen noch für eine bessere Zukunft gearbeitet – die Kinder sollten es einmal besser haben!

Was ist dieser destruktiven Entwicklung entgegenzusetzen? Rosa: «Die Losung ‹Gib mir ein hörendes Herz› von König Salomo erlangt also auch eine politische Dimension. In einer Demokratie muss jeder Mensch eine Stimme haben; um diese Stimme zu hören, braucht es Ohren, welche bereit sind, auf die anderen Stimmen zu hören. Voraussetzung für einen weniger aggressiven Dialog ist eben ein hörendes Herz, das die anderen hören will. Voraussetzung für einen versöhnlichen Dialog sind Menschen, die hören und antworten wollen – auch wenn eine andere Meinung geäussert wird. Die anderen sind nicht alle Volksverräter oder Idioten! Leider «halten sich die Menschen gegenseitig für Idioten», konstatiert Rosa. Intellektuelle Redlichkeit hingegen gehe davon aus, dass «es da auf der anderen Seite vielleicht auch Argumente gibt, die mich sogar was angehen». Durch das wechselseitige Gespräch und das Bemühen, einander damit zu erreichen, geschieht eine Transformation. Diese Veränderung, diese «Natalität» (Hannah Arendt), befähigt uns, «neu anzufangen, Neues hervorzubringen».

Rosa ist überzeugt, dass es in erster Linie die Kirchen seien, die über die Erfahrung, über die Geschichten, Riten und Praktiken sowie Räume verfügen, in denen ein hörendes Herz eingeübt werden könne. Die Grundthese des Soziologen lautet: «Wir müssen uns (wieder) anrufen lassen. (…) Wir haben eine Krise der Anrufbarkeit, und die zeigt sich in der Glaubenskrise und in der Demokratiekrise gleichermassen.»
Der Begriff der Resonanz meint genau diese Fähigkeit, sich wieder anrufen zu lassen. Es gilt den Aggressionsmodus zu verlassen, das Abarbeiten von To-do-Listen und den Dauerkonsum aufzugeben.

Hartmut Rosa arbeitet vier Momente heraus, welche die «Resonanz» ausmachen. 1. Die Anrufung; wir hören aufmerksam auf einen dezidiert «Anderen». 2. Die Selbstwirksamkeit; mit dem anderen in eine Art von Verbindung treten – Antworten! Resonanz entsteht, sie ist nicht einfach machbar! 3. Ein Moment der Transformation; ich komme in eine andere Stimmung, ich verwandle mich. 4. Eine Resonanz-Beziehung ist unverfügbar, man kann sie weder erkaufen noch erzwingen. Resonanz muss sich ereignen, sich einstellen. Eine gewisse Ergebnisoffenheit ist die Voraussetzung dafür.

Die Kirchen, die Religionen, verfügen über «jene Räume», über jene «Elemente, die uns daran erinnern können, dass eine andere Weltbeziehung als die steigerungsorientierte, auf Verfügbarmachung zielende möglich ist», so Hartmut Rosa. Er schliesst sein Buch mit den Worten: «Wenn die Gesellschaft das verliert, diese Form der Beziehungsmöglichkeit vergisst, dann ist sie endgültig erledigt. Und deshalb kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, nur lauten: Ja!» Sein Buch, das vergangenen Dezember bei Kösel erschienen ist, beruht auf einem Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang im Januar 2022; das Vorwort dazu verfasste Gregor Gysi, der bis 2015 Vorsitzender der Linksfraktion im Deutschen Bundestag war.