Zu Beginn des Monats Juli hat der sichtlich geschwächte Papst Franziskus die Gläubigen wie gewohnt auf dem Petersplatz begrüsst. Anlässlich des «Angelus» rief Papst Franziskus eine wichtige Qualität im Zusammenleben in Erinnerung. Er forderte dazu auf, den gepflegten Dialog nicht zu vernachlässigen.
Markus Muff
Die letzten Jahre haben zweifellos dazu beigetragen, dass wir alle unsere eigenen Standpunkte stärker verteidigen und andere Ansichten weniger hören wollen. Nicht erst der unselige Krieg in der Ukraine, bereits die Pandemie im Zusammenhang mit dem Coronavirus hat tendenziell das gute Gespräch von Angesicht zu Angesicht bedroht.
Noch nie war es einfach, die Argumente der anderen wirklich hören zu wollen. Meistens liess man Andersdenkende einfach in Ruhe oder ärgerte sich insgeheim. Man wollte keine Spannungen entstehen lassen und klammerte daher heikle Themen einfach aus. So zum Beispiel bei Geburtstagsfeiern oder bei Geschäftsanlässen, bei privaten Treffen ebenso wie bei offiziellen Empfängen. Die heiklen Themen wurden gekonnt umschifft.
Im Verlauf der Pandemie war das nicht mehr überall möglich. Die 2G-Regelung galt nur für verhältnismässig kurze Zeit und doch waren solche Regelungen – nicht nur in der Schweiz – Auslöser von beachtlichen gesellschaftlichen Spannungen.
Es ist nicht die Aufgabe dieser Überlegungen, inhaltlich dazu Stellung zu nehmen, wie sinnvoll und wie wissenschaftlich begründbar die Regeln während der Pandemie waren. Doch können wir feststellen, dass im Rahmen der Auseinandersetzungen um eine adäquate Antwort auf die Herausforderungen eines Virus auch Freundschaften aufgeweicht, Beziehungen instabil wurden; auf dem politischen Parkett sah man die Entwicklung, dass die unterschiedlichen Standpunkte immer vehementer, ja aggressiver vertreten wurden.
Man hat sich gegenseitig immer härtere Vorwürfe gemacht; es sind wenig schmeichelhafte Attribute verteilt worden, bei denen Diktatur oder Schwurbler noch zu den harmloseren gehörten.
Die Verhärtung der unterschiedlichen Standpunkte ist einerseits verständlich. Bei vielen Themen ist es sehr anspruchsvoll, sich in die Fachbegriffe und in die naturwissenschaftlichen Arbeiten, wie zum Beispiel epidemiologische Studien, zu vertiefen. Andererseits ist jede Gemeinschaft – von der Familie über das Quartier oder die Gemeinde bis hin zu den Staaten – dringend auf einen guten Dialog angewiesen. Ohne qualifizierten Dialog gibt es zunehmend nur noch Verdächtigungen, selbst gebastelte Theorien, boshafte Vermutungen und gar Schuldzuweisungen.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch mit starken Emotionen, mit Ängsten und selbst mit psychologisch ausgeklügelter Manipulation immer wieder versucht wird, die jeweils andere Seite zu diffamieren. Gewisse Themen werden aufgeblasen, andere Tatsachen werden kleingeredet – dabei kommt die wichtige Aufgabe des sachlichen Dialogs unter die Räder.
Die Worte von Papst Franziskus anlässlich der «Angelus»-Ansprache rufen uns in Erinnerung, was wir Christinnen und Christen tun sollten: die Wahrheit suchen – die Wahrheit im gepflegten Dialog suchen. Der Papst wirbt für ein Klima des Hörens. Wir sollten wieder vermehrt auf Gott hören – konkret also zum Beispiel die Heilige Schrift lesen oder das hörende Gebet pflegen; wir sollten wieder vermehrt auf «die Brüder und Schwestern hören» und damit ein Klima schaffen, «in dem sich Personen nicht nur dann willkommen fühlen, wenn sie sagen, was mir gefällt». Nein – der Papst betont, dass sich jeder Mensch, so wie er ist, «akzeptiert und als Geschenk (Gottes) wertgeschätzt fühlen» soll. Für Christinnen und Christen stellt sich gemäss Papst Franziskus immer die Frage: «Spreche und lebe ich als Zeuge Jesu – bringe ich etwas von seinem Licht in das Leben eines anderen Menschen?»
Der Dialog ist nie ein herrschaftsfreier Dialog – wie er von gewissen Philosophen und Denkern gewünscht wird. Herrschaftsfreie Diskussionen gibt es nicht, immer unterliegen wir einer Gruppendynamik, oder wir sind mit unterschiedlichem Fachwissen innerhalb einer Gruppe konfrontiert. Anstatt also der idealistischen Theorie eines herrschaftsfreien Dialoges nachzurennen, wäre es hilfreicher, bestehende Unterschiede als solche wahrzunehmen. Und dabei eine gemeinsame Basis zu suchen. Denn Unterschiede sind bereichernd; dank der Vielfalt der gut durchdachten Meinungen und der unterschiedlichen Sichtweisen kommen wir in der Suche nach der Wahrheit meistens besser voran. Niemand kann allein alle Aspekte einer Sache bedenken – erst im Austausch mit anderen und in der gepflegten Diskussion erschliessen sich weitere Dimensionen. Es dürfte trotzdem sehr schwierig sein, alle Dimensionen einer Sache zu verstehen – wir sind immer auch mit einem deutlichen Rest von Unwissenheit unterwegs.
Als reife Menschen suchen wir also unvoreingenommen und immer im Austausch mit unserer Mitwelt nach der Wahrheit. Weder Strategen noch Demagogen werden Erfolg haben, wenn wir unseren Sinnen trauen und unserer gut erworbenen Erkenntnis vertrauen.
Das christliche Menschenbild geht davon aus, dass wir alle in der Lage sind, die für unser Leben wichtigen Einsichten zu erreichen und unsere Entscheidungen selbst zu treffen. Wir sind deshalb in der Lage dazu, weil wir in unseren Entscheidungen nicht nur vom verfügbaren Wissen, sondern vor allem auch von unserem Gewissen geleitet sind. Und das gut gebildete Gewissen ist in den allermeisten Fällen ein untrüglicher Kompass.
Es gilt also, die Aufforderung von Papst Franziskus ernst zu nehmen und im gepflegten Dialog wieder vermehrt aufeinander und auf Gottes Wort zu hören. Dadurch schärft sich auch unser Gewissen, und es bleibt weniger anfällig für Trugbilder aller Art.
«Der Heilige Geist hat das Geschenk der Prophetie innerhalb des Volkes Gottes gut aufgeteilt; deshalb ist es bereichernd, auf die anderen Menschen zu hören» – so könnten wir die Überlegungen des Heiligen Vaters zusammenfassen. Dabei ist ein Prophet nicht so sehr jemand, der die Zukunft kryptisch voraussagt; der Prophet ist im biblischen Sinn vielmehr eine Art Hell-Seher; eine Person also, die klar sieht und klar denkt und diese Gabe in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Prophetie bringt das bereits geoffenbarte Wort Gottes neu zur Geltung und dient so den Zuhörern zur Erbauung, zur Ermahnung, Warnung, Zurechtbringung und Tröstung.
Doch wissen wir auch, dass Jesus selbst die Grenzen der «Propheten» erlebt und aufgezeigt hat. Der Evangelist Matthäus erinnert sich, dass Jesus in seiner Heimat nicht nur Freunde hatte, und hält die Worte Jesu diesbezüglich wie folgt fest: «Und sie nahmen Anstoss an ihm (Jesus). Da sagte Jesus zu ihnen: Nirgends ist ein Prophet ohne Ansehen ausser in seiner Heimat und in seiner Familie. Und er wirkte dort nicht viele Machttaten wegen ihres Unglaubens» (Mt 13.57f.).
Der Aufruf des Papstes, in einem Klima des Hörens auf Gott und die Mitmenschen insbesondere die Gaben der Prophetie (im biblischen Sinne) zu wertschätzen, dürfte also in der Praxis schnell an seine Grenzen stossen.