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Über 4000 Arbeiter haben in etwas mehr als einem Jahr die ersten 100 Kilometer fertiggestellt: Der Qosh Tepa-Kanal soll Wasser aus dem Fluss Amudarja in Wüstengebiete im Norden Afghanistans lenken und das «Islamische Emirat» zum landwirtschaftlichen Selbstversorger machen. Der Bau aber führt zu Spannungen mit den Nachbarn – schon jetzt herrscht in Zentralasien ein Mangel an der kostbaren Ressource.

John Micelli 

 

Quer durch das Land ist Gulab Khan Mangal gereist, aus Paktia im Süden Afghanistans in die Provinz Balch an der Grenze zu Usbekistan, um das Wunder mit eigenen Augen zu sehen. Jetzt sitzt der vormalige Gouverneur im Wüstensand und teilt seine Begeisterung mit dem Moderator des internationalen Ablegers des staatlichen Senders Radio Television Afghanistan (RTA): «Nichts mehr werden wir in Zukunft importieren müssen. Im Gegenteil – wir werden Weizen und andere Agrarprodukte in die Nachbarstaaten liefern können!» Und während ein Vogelschwarm über dem neu erstellten Kanal seine Runden dreht, ergänzt der heute als Berater des Ministeriums für Grenzen und Stammesangelegenheiten tätige Politiker: «Wie diese Vögel dank dem Wasser den Weg in die Wüste gefunden haben, werden unsere über die ganze Welt verteilten Landsleute nach Afghanistan zurückkehren – denn das Glück liegt in der Heimat.» Im gut halbstündigen Beitrag von RTA World pflichten Mangal Baggerführer, Bauunternehmer und Ingenieure bei: Er sei sehr stolz auf seinen Beitrag zu dieser nationalen Aufgabe, ruft Lastwagenfahrer Ashuqullah Hotak aus seiner Kabine in die Kamera, und Abdul Rahman Attash, Geschäftsführer der nationalen Entwicklungskooperation, betont, dass das Emirat den Kanalbau ohne fachliche und finanzielle Unterstützung aus dem Ausland realisiere: «Mit diesem grossen Infrastrukturprojekt nimmt Afghanistan sein Schicksal in die eigenen Hände.» Für das Taliban-Regime geht es offensichtlich um weit mehr als Wasser und Ernährung – die international isolierte Regierung religiöser Fundamentalisten will die Unabhängigkeit des Landes beweisen. Der in grösster Eile vorangetriebene Kanalbau aber provoziert Spannungen mit den letzten Verbündeten: Entgegen dem globalen Trend hatten sich Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan in den vergangenen zwei Jahren seit der Rückkehr der Taliban mit Kritik am Regime auffällig zurückgehalten. Allerdings geht es jetzt ans Eingemachte.

 

Wassermangel erhöht Instabilität

Knapp 300 Kilometer lang soll der Qosh Tepa-Kanal bis zur Vollendung werden und dem Amudarja in der Nähe der usbekischen Stadt Termiz zwischen 15 und 50 Prozent seines Volumens entnehmen, um damit eine Fläche von der Grösse des Kantons Bern zu bewirtschaften. In den kommenden Jahren könnte Prognosen zufolge die vom Klimawandel beschleunigte Gletscherschmelze im Hindukusch die Verluste für die Anrainer am Unterlauf begrenzen, aber spätesten ab 2050 werden auch am Amudarja die Pegelstände sinken. Afghanistan allerdings sieht sich im Recht: Tatsächlich entnahm das Land bis jetzt im Gegensatz zu seinen Nachbarn dem Fluss kaum Wasser. Usbekistan dagegen erzielt dank künstlicher Bewässerung mit Baumwolle ein Fünftel seines Bruttosozialprodukts; zwischen zwölf und 13 Kubikkilometer Wasser fliessen jährlich nahe der Stadt Kerki aus dem Amudarja in den 1500 Kilometer langen Karakumkanal für rund 12 500 Quadratkilometer landwirtschaftlich genutztes Land in Turkmenistan. Die Bilanz der früher auch Turkmenischer Hauptkanal genannten Wasserstrasse aus der Zeit der Sowjetunion aber ist ernüchternd: Die Verluste durch Verdunstung und Versickerung sind immens, ausserdem hat die Wasserentnahme dazu geführt, dass seit den 1990er-Jahren der Amudarja sein Ziel nicht mehr erreicht – der einst wichtigste Zufluss versiegt heute in der Wüste, viele 100 Kilometer vor dem deshalb in mehrere Teile zerfallenen abflusslosen Aralsee. Die schrecklichen Konsequenzen dieser menschgemachten Naturkatastrophe vor Augen, schlossen die zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan 1992 ein umfassendes Abkommen für ein gemeinsames Management und zum Schutz internationaler Wasserressourcen. Diese Vereinbarungen wurden zwar nicht immer wortgetreu eingehalten und konnten Spannungen zwischen den Unterzeichnern nicht gänzlich verhindern – immerhin aber kam es nie zu einer militärischen Auseinandersetzung. Aus dem Bürgerkriegsland Afghanistan allerdings waren keine Vertreter zur Vertragsunterzeichnung in die kasachische Hauptstadt Almaty gereist. Infolgedessen fühlt sich die Taliban-Regierung auch nicht an das Abkommen gebunden. Noch sitzen die Nachbarn am längeren Hebel: Afghanistan will seinen Aussenhandel mit ihnen intensivieren und ist bei der Energieversorgung auf Gas aus Turkmenistan und Elektrizitätswerke in Usbekistan angewiesen. Mittelfristig aber, befürchtet Konfliktforscher Bismellah Alizada von der School of Oriental and African Studies der Universität London, könnten die Taliban in Versuchung geraten, mithilfe von transnationalen extremistischen Gruppen die Region zu destabilisieren und die Nachbarstaaten unter Druck zu setzen. Eine gerechte Verteilung der lebensnotwendigen, aber schwindenden Ressource Wasser in der Region wird jedenfalls immer unwahrscheinlicher.

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