«Verzichten ist ein Zeichen von Stärke»
Nach dem Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit – in diesem Jahr besonders früh am 14. Februar. Sie steht für einen Bruch, eine Umkehr, ein Innehalten und letztlich für eine Befreiung.
Christian Feldmann
Das heute noch im katholischen Aschermittwochsgottesdienst übliche Aschenkreuz ist eine schwache Reminiszenz an strenge Bräuche. Den Ritus gibt es seit dem 10. Jahrhundert, die Asche gewinnt man aus den im Vorjahr bei der Palmprozession geweihten Zweigen. Der Priester segnet die Asche und streut sie den Gottesdienstbesuchern aufs Haupt, oder er zeichnet ihnen ein Aschenkreuz auf die Stirn.
In der Bibel und im Volksmärchen – Stichwort Aschenputtel – bedeuten Staub und Asche dasselbe: etwas Flüchtiges, völlig Gewöhnliches, komplett Wertloses. Ijob sitzt traurig in der Asche, nachdem er alles verloren hat, seine Habe und seine Familie. Wenn ein neuer Papst in sein Amt eingeführt wurde, verbrannte ein Kardinal einst vor seinen Augen einen Wollfaden, um ihn daran zu erinnern, dass alle Herrlichkeit der Welt vergeht und auch die Papstwürde nur auf Zeit verliehen wird.
Seit Gott in Jesus Mensch geworden ist, vergänglicher, verwehender Staub, besteht allerdings Hoffnung, dass dieses nichtige Menschenleben geliebt ist, gerettet werden wird und eine Zukunft über den Tod hinaus hat. Burn-out, Tristesse, Depressionen, der Verlust von Schwung und Daseinsfreude, die bittere Sehnsucht nach Visionen und Perspektiven: Viele Menschen leiden heute darunter, dass unter der Asche ihres Lebens jede Glut erloschen ist. Das Bild hat aber auch eine positive Seite: Asche reinigt, wäscht den schmutzigen Belag ab, der vielleicht auch die Seele verkleistert und behindert.
Viele Menschen – und auch immer mehr Mediziner – entdecken das Fasten heute neu als einen Weg der inneren Freiheit. «Verzichten ist ein Zeichen von Stärke», sagt der Benediktiner Anselm Grün und zitiert Sigmund Freud: «Wer nicht verzichten kann, vermag kein starkes Ich zu entwickeln.» Grün: «Und wer immer sofort jedes Bedürfnis befriedigen muss, der kann nicht wirklich geniessen.»
Verzicht als Ermöglichung von Freiheit. Befreiung vom Zwang, dauernd zu trinken, klingt doch schon viel besser als Alkoholverbot. Wer Handy und PC nicht auch mal ausschalten kann, wird Schwierigkeiten im direkten Kontakt mit Menschen bekommen. Der Workaholic, der keine Erholung kennt, geht kaputt, seelisch und körperlich. Der Kontrastbegriff zum Verzicht heisst Sucht.
Fastenzeit: sich von Überflüssigem trennen. Abhängigkeiten überwinden. Sich wieder an einfachen Dingen freuen. Die Lebensmitte wiederfinden. Das Sein höher schätzen als das Haben. Nein, umkehren, sich aus Schuldverstrickungen lösen, ist nichts Lebensfeindliches. Und die Einschränkungen beim Essen und Trinken sind nur Chiffre, Symbol für das, was eigentlich gemeint ist: Neuorientierung, Bewusstseinsveränderung, Kehrtwende.
Auch die Muslime kennen eine solche Zeit der Umkehr, arabisch Ramadan genannt, «der heisse Monat». Muslime kombinieren das Fasten mit Meditieren, Schweigen, Koranlesen. Christen fasten ebenfalls, um Heilung für ein verwundetes, krankes, desorientiertes Leben zu finden und für Gott frei zu werden – aber sie haben noch eine zusätzliche Motivation: Sie fasten, wie es Jesus getan hat; und sie bereiten sich damit auf Ostern vor, das Fest der Auferstehung, wo die Fülle des Lebens gefeiert wird und alle Grenzen überschritten werden, auch die des Todes.
Deshalb sprechen die Katholiken heute lieber von «österlicher Busszeit» als von Fastenzeit; die Protestanten halten am Begriff Passionszeit fest. Dem einen grossen Gedanken der Umkehr, der Lebenswende, dienen all die uralten und grossteils vergessenen Riten und Bräuche in diesen Wochen, in denen zu besonderen Fastenpredigten und Bussgottesdiensten eingeladen wird und deren Sonntage geheimnisvolle Namen tragen: Oculi, Laetare, Judica nach den lateinischen Anfangsworten der uralten Eingangsgesänge.
Fastenzeit, Passionszeit, österliche Busszeit: ein Weg der Umkehr, eine Entdeckungsreise in das eigene Innere, ein Abenteuerurlaub von den eingefahrenen Gewohnheiten, eine aufregende Suche nach neuen Möglichkeiten und Visionen. Die Suche beginnt mit der Frage, woran unser Herz hängt, was wir aufzugeben bereit sind, wonach wir uns sehnen, wo wir eigentlich hin wollen. Wie es der protestantische Theologe Jörg Zink einmal ganz einfach und doch ziemlich poetisch ausgedrückt hat: «Herr, in deiner Hand verwandelt sich die Welt. Du sprichst: Ich bin die Auferstehung und das Leben! Und alles ändert sich vor unseren Augen. In Christus ist die Erde auferstanden.»