Ein Leben im Kollektiv bietet Fischen eine effizientere Fortbewegung. Aber der Fischschwarm hat als kollektiver Geist noch viele weitere Funktionen zum Wohl des Individuums. 

von Harald Rösch 

Im Labor von Iain Couzin schwimmen Moderlieschen in grossen Becken. Das menschliche Auge kann einen einzelnen Fisch in dem dichten Gewusel hin und her flitzender Fischleiber kaum länger als einige Sekunden verfolgen. Aber dank moderner Hochleistungskameras, dank automatischer Bildverfolgung und Bewegungsanalyse können die Forschenden um Iain Couzin trotzdem jeden Fisch beobachten. Das Durcheinander innerhalb eines Fischschwarms verwirrt nicht nur das menschliche Auge. Auch Angreifern fällt es schwer, sich auf ein bestimmtes Tier zu konzentrieren. Solch ein Schwarm ist zwar einfacher zu entdecken als ein einzelner Fisch und macht Feinde daher leichter auf sich aufmerksam, aber die schiere Menge an Fischen bietet Sicherheit. 

Schutz ist einer der Gründe, warum Fische in oft riesigen Schwärmen durch die Ozeane ziehen. Der Schwarm verwirrt Angreifer aber nicht nur, er reagiert auch schneller als diese, denn Tausende von Augen, Nasen und Drucksensoren sehen, riechen und fühlen mehr! Der erste Fisch des Schwarms, der einen Räuber wahrnimmt, alarmiert die Nachbarn durch seine Fluchtbewegung und löst so eine Kettenreaktion aus. Die Information verbreitet sich blitzschnell: Dank des Informationsvorsprungs kann ein Schwarm bis zu 15 Mal schneller auf einen Angriff reagieren als ein Individuum. Grosse Raubfische wollen das verhindern. Die Forschenden haben entdeckt, dass manche dieser Tiere bei ihren Attacken in einer Reihe hintereinander in den Schwarm schwimmen, um diesen zu teilen. In den Kleingruppen ist dann leichter Beute zu machen. 

Das Schwarmleben hilft zudem, lokale Unterschiede oder allmähliche Veränderungen des Salzgehalts, des Lichts oder der Temperatur wahrzunehmen. Durch das Leben in Gruppen erlangt der Schwarm kollektives Wissen über seine Umwelt und kann auf diese reagieren – Wissen, das ein Einzeltier nicht hat. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben darüber hinaus entdeckt, dass ein Fisch im Schwarm weniger Bewegungsenergie benötigt als ein einzeln schwimmendes Tier. Der Grund: Die Energie aus Wasserwirbeln von den Flossenschlägen seiner Nachbarn macht das gemeinsame Schwimmen effizienter. Forschende hatten dies schon seit Langem vermutet, doch Couzin und sein Team lieferten 2020 erstmals den Beleg. Durch winzige, unter Laserlicht aufleuchtende Wasserstoffbläschen wurden die Wirbel sichtbar, die jeder Fisch beim Schwimmen erzeugt und die sich nach hinten ausbreiten.  

Das Verhalten von Tieren in einem Schwarm wirkt so perfekt abgestimmt, dass man unwillkürlich höchst komplizierte Regeln vermutet, die den Schwarm zusammenhalten. Couzin und sein Team haben mit diesem Irrtum aufgeräumt. «Schwarmtiere folgen verhältnismässig einfachen und effektiven Regeln, sie müssen gar nicht aktiv miteinander Informationen austauschen. Es reicht, auf die Bewegungen der Nachbarn zu reagieren.» Sehr nah beieinander schwimmende Fische stossen sich also gegenseitig ab und vermeiden so Kollisionen. Weiter entfernte Individuen besitzen dagegen anziehende Wirkung. Aus diesen Regeln ergibt sich die Ausrichtung der Fische beim Schwimmen.  

Couzin und sein Team haben darüber hinaus entdeckt, dass die Mitte eines Schwarms entgegen der herkömmlichen Ansicht oft gar nicht die beste Position im Schwarm ist. Die Tiere, die vorne und an den Seiten schwimmen, erhalten einerseits Informationen anderer Schwarmmitglieder. Gleichzeitig haben sie direkten Zugang zu Informationen über Ereignisse ausserhalb der Gruppe, wie zum Beispiel das Auftauchen eines Räubers. Der schlechteste Platz ist hinten – was dazu führt, dass die Tiere dort versuchen, diese riskante Position zu verlassen, und sich daher permanent bewegen. 

Die Forschenden haben auch herausgefunden, dass Fische dem Mehrheitsprinzip folgen – und das, obwohl sie selbst nicht zählen können. Schwimmen zehn Fische nach rechts und acht nach links, entscheidet sich der Schwarm in den meisten Fällen für rechts. Überraschenderweise gehen manche Säugetiere ähnlich vor. Eine Auswertung der Daten ergab, dass die Richtungswahl der Tiere davon abhängt, in welchem Winkel sich zwei vorausgehende Paviane entfernen. Beträgt dieser weniger als 90 Grad, gehen die nachfolgenden Tiere einen Kompromiss ein und wählen den Mittelweg. Ist der Winkel aber grösser als 90 Grad, nehmen die Paviane die Richtung, die von mehr Gruppenmitgliedern bevorzugt wird. Das dominante Tier kann sich dem nur anschliessen. 

Die Individuen kennen einander nicht, sie sind in der Regel nicht verwandt und bilden auch keine dauerhaften Beziehungen. Früher vermutete man, die Fische innerhalb eines Schwarms seien komplett anonym und egalitär. Die Ergebnisse von Iain Couzin und seinem Team stellen diese Vorstellungen jedoch infrage. Die Forschenden haben Algorithmen für maschinelles Lernen entwickelt, welche einzelne Fische selbst dann noch identifizieren können, wenn diese für uns Menschen vollkommen gleich aussehen. Die Untersuchungen zeigen, dass Schwärme überraschenderweise nicht uniform aufgebaut sind, sondern bislang unbekannte interne Strukturen aufweisen. 

Die Tatsache, dass ein Schwarm ein sich selbst organisierendes System ist, bedeutet also nicht, dass alle Individuen den gleichen Einfluss auf sein Verhalten haben. Trotz einer fehlenden offensichtlichen Hierarchie sind manche Individuen den Analysen zufolge wichtiger als andere. Fische am Rand des Schwarms reagieren als Erste auf Veränderungen, zum Beispiel auf einen Angreifer, und lenken dadurch mehrere Sekunden lang die Bewegungsrichtung der Gruppe. Manche Individuen wiederum schwimmen schneller als andere und können aufgrund dessen den Schwarm über längere Zeiträume hinweg anführen, beispielsweise bei der Nahrungssuche. Solche individuellen Unterschiede sind bislang noch kaum untersucht worden. Dabei geben sie einer uniform scheinenden Gruppe Struktur und beeinflussen ihr Verhalten massiv. 

Dabei stellt sich auch die Frage nach der Persönlichkeit von Fischen. Warum schwimmen die einen schneller als die anderen? Sind sie mutiger? «Letztlich wissen wir noch nicht, ob eine Sardine schneller schwimmt, weil sie mutiger ist oder weil sie schlicht grösser oder stärker ist», sagt Couzin. Wie man die Verschiedenheiten zwischen den Schwarmmitgliedern auch nennen mag, es reichen bereits einzelne kleine Unterschiede aus, um die Entscheidungsfindung sowohl eines Individuums als auch eines ganzen Schwarms zu beeinflussen. 

Fischschwärme und andere Tiergruppen entwickeln Fähigkeiten, welche die einzelnen Tiere nicht besitzen. Der Schwarm ist folglich mehr als die Summe seiner Teile – auch dies eine Analogie zum Gehirn. Darauf beruht auch die im Zusammenhang mit dem Internet viel zitierte Weisheit der Vielen. Das – zum Teil fehlerbehaftete – Wissen der Einzelnen ergibt in der Summe ein recht genaues Abbild der Wirklichkeit. «Ein Schwarm kann auf diese Weise ein kollektives Gedächtnis entwickeln und sich an Dinge erinnern, die ein bestimmtes Tier unter Umständen gar nicht selbst erlebt hat», erklärt Couzin. Ein solch kollektiver Geist ist auch von Staaten bildenden Tieren wie Ameisen und Bienen bekannt. Anders als diese Insekten sind die Fische eines Schwarms jedoch nur selten miteinander verwandt. Die Evolution kann deshalb nicht den Schwarm selbst optimieren, sondern nur dessen Individuen. 

Die Weisheit der Vielen ist aber bekanntlich nicht unendlich. Iain Couzin und sein früherer Doktorand Albert Kao haben gezeigt, dass der Informationsvorsprung, den das Leben im Schwarm verleiht, ab einer Gruppengrösse von 15 bis 20 Individuen wieder zurückgeht. Doch warum bilden dann manche Arten Schwärme aus vielen Tausend Individuen? «Anders als es auf den ersten Blick erscheinen mag, sind viele Grossgruppen nicht gleichförmig, sondern durchaus heterogen aufgebaut, das heisst, sie besitzen Untergruppen. Grosse Elefantenherden zum Beispiel bestehen aus verschiedenen Familien und Clans», so Couzin. Solche Gruppenstrukturen können verhindern, dass der Informationsfluss abreisst. 

Dank der von ihnen entwickelten Analysewerkzeuge können die Forschenden Stück für Stück aufklären, wie Fische ihr Verhalten im Schwarm koordinieren. Dies gibt auch Hinweise darauf, wie der Mensch diese Regeln für eine effektive Koordination von Schwärmen autonomer Fahrzeuge wie Drohnen anwenden könnte. «Ich glaube, dass wir den Code endlich geknackt haben. Die von der Natur entwickelten Regeln sind demnach wahrscheinlich genauso gut wie die vom Menschen geschaffenen, aber viel einfacher und robuster. Unsere Studien an Fischen könnten sich also schon bald auf unser tägliches Leben auswirken.» 

Zusammenfassung eines Beitrags des Max-Planck-Instituts.