Am 4. Oktober wird das Fest von Franziskus von Assisi gefeiert. Es sind 800 Jahre her, dass die Ordensregel des Heiligen feierlich gutgeheissen wurde. An Aktualität haben sie nicht verloren – im Gegenteil. In seinem persönlich gehaltenen, zweiteiligen Text erklärt Adrian Holderegger, Theologe, Ethiker und Kapuziner, warum das so ist.
Adrian Holderegger
Als Kapuziner, als der ich mich der Regel des heiligen Franz verpflichtet weiss, fühle ich mich insbesondere Bruder Anton Rotzetter verbunden, der 2016 verstorben ist. Er hat mich an seiner Leidenschaft für Franz von Assisi teilhaben lassen, einer Leidenschaft, mit der er zeitlebens die überraschende, visionäre Botschaft des Poverello auszuloten suchte und für uns heute in die Gegenwart hinein aktualisierte.
Es wird berichtet, dass die erste «Ordensregel» des Franziskus auf einem Blatt Papier festgehalten worden sei, die für ihn und seine ersten Brüder als Richtschnur ihres neuen, von Gott inspirierten Lebensstils galt; es muss um 1209 gewesen sein. Besonders drei Stellen des Evangeliums galten ihm und seinen erst nur wenigen Gefährten als Lebensregel: «Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir» (Mt 19, 21). «Nehmt nichts auf den Weg, keinen Wanderstab und keine Vorratstasche, kein Brot, und kein zweites Hemd» (Lk 9, 3). «Wer mein Jünger sein will, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach» (Mt 16, 23). Diese nicht mehr vorhandene frühe Ur-Regel, bestehend aus diesen Evangelientexten und ganz wenigen Anweisungen, erhob die absolute Besitzlosigkeit, die bedingungslose Einordnung unter die Armen und die kompromisslose Nachfolge des Wanderpredigers Jesu von Nazareth zum Massstab. Franziskus war zuinnerst überzeugt, dass dies der Lebensweg war, der ihm von Gott über die Heilige Schrift vorgezeigt («geoffenbart») wurde. Eine Anlehnung an ältere, bewährte Mönchsregeln, etwa an diejenige des Augustinus von Hippo (+430) oder des Benedikt von Nursia (+547), kam für ihn nicht infrage, schon gar nicht deren Übernahme. Seine Lebensweise, die gewiss Vorbilder in den von Laien bestimmten Armutsbewegungen des Mittelalters hatte (zum Beispiel Katharer, Waldenser), hob sich dermassen von den herkömmlichen Ordenstraditionen ab, dass sie einem völligen Bruch mit dem mittelalterlichen Mönchtum gleichkam. Mit Franz von Assisi setzte eine andere Art des Ordenslebens ein, die er aber von der Kirche anerkannt haben wollte. Das damalige kirchliche Recht jedoch sah keine Möglichkeit vor, diesem neu entstandenen «Minder-Brüder-Orden» eine kanonische Form geben zu können. Auf der anderen Seite erforderte die rasch wachsende Zahl von Brüdern weitere schriftlich fixierte Bestimmungen, etwa bezüglich der Aufnahme neuer Brüder, des Umgangs mit Besitz und Geld, mit Leitung und Organisation. Diese Erweiterung nahm Franziskus gemeinsam mit seinen Brüdern vor, mehr der Notwendigkeit und den Umständen gehorchend als aus Überzeugung gegenüber seinem ursprünglichen Ideal. Der Prozess dauerte mehr als zehn Jahre bis 1221; jährlich wurden beim Pfingsttreffen der Brüder neue Bestimmungen, konkrete Weisungen und detaillierte Appelle hinzugefügt. Dies war für Franziskus ein Jahrzehnt des Zweifelns, des Suchens, der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Brüderschaft, des Aushandelns von Kompromissen. Denn Franziskus wollte eigentlich keinen neuen Orden gründen, er liess sich aber dennoch in die Erfordernisse seiner immer grösser werdenden Brüderschar ein. Bis zur endgültigen Anerkennung der Regel in ihrer dritten Version im Jahr 1223 durch Papst Honorius III. dauerte es nochmals zwei Jahre. Nun wurden auch mithilfe von Fachkundigen der Bibel und des Rechts eine Sprache und Form, eine Ausgestaltung gefunden, die den offiziellen Ansprüchen der Amtskirche wie auch den Ansprüchen des täglichen Lebens der Brüder gerecht werden sollte, die sich nun bereits über weite Teile Europas verbreitet hatten. Es war aber der entschiedene Wille des Franziskus, dass das Regelwerk nur eine Hinführung sein soll, wie «das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus zu befolgen (ist) durch ein Leben in Gehorsam, ohne Eigentum und in Keuschheit» (RB 1). Diese Schrift ist nicht bloss Anweisung, Regel, sondern ein geistliches Dokument, das während 800 Jahren massgebliche Richtschnur für die franziskanische Bewegung war und weiterhin bleiben wird. Nicht weniger wurde das Franziskusbild durch viele Legenden und Geschichten geprägt, was die franziskanische Frömmigkeit über Jahrhunderte beeinflusst hat. In den letzten Jahren hat die Forschung mehr und mehr in den Vordergrund gehoben, dass Franziskus ein «geistlicher Schriftsteller» sei und dass sich aus seinen zugegebenermassen nur wenigen erhaltenen Schriftstücken ein abgerundetes Bild seiner Visionen ergebe. Einiges davon möchte ich thematisieren.
Wie die ersten Regeltexte zeigen, hatte Franziskus einen unmittelbaren Zugang zur Heiligen Schrift, so wie er zu seiner Zeit von verschiedenen Bewegungen neu entdeckt wurde. Er predigte und lebte eine wörtliche Befolgung des Evangeliums. Zweifellos hat Franziskus die Schrift radikal, aber dennoch nicht gesetzlich, legalistisch ausgelegt. Dies gilt insbesondere auch für die erwähnten Teststellen, die zum Kerngehalt der franziskanischen Lebensform gehören. In der konkreten Praxis zeigte sich, dass Franziskus ein dynamisches Verständnis der evangelischen Radikalität hatte. Beispielsweise kommt in der Aussendungsrede (Mt 10,10) für diejenigen, welche die Botschaft hinaustragen, das Tragen von Schuhwerk nicht infrage. In der Auslegung durch Franziskus heisst es dann aber: «Die durch Not gezwungen sind, können Schuhwerk tragen» (NbR 2,14). Und in einem Brief an seinen Gefährten Bruder Leo formuliert Franziskus so etwas wie ein Auslegungsprinzip: «Auf welche Weise auch immer es dir besser erscheint, Gott, dem Herrn zu gefallen und seinen Fussspuren und seiner Armut zu folgen, so tu es mit dem Segen Gottes, und im Gehorsam gegen mich» (FQ 107). Der Ordensgründer entlässt seine Gefährten in die Freiheit, damit sie das je Bessere der Nachfolge suchen. Das ist bemerkenswert. Ohne die Radikalität, in der sich Franziskus auf das Evangelium einlässt, aufzugeben, macht er deutlich, dass die Auslegung nichts mit einer gesetzlichen, fundamentalistischen Ausdeutung zu tun hat, aber mit einer Dynamik des Geistes, die in der Konkretheit angesichts des Ideals das je Bessere sucht. Dass es Franziskus um den Geist der Heiligen Schrift ging – oder, wie er sagt, darum, «nach der Form des heiligen Evangeliums zu leben» (Test. 14) – und nicht um den Buchstaben, mag folgende Geschichte symbolhaft sehr schön verdeutlichen: Franziskus soll das einzige Exemplar des Neuen Testaments, das die Brüder besassen, verkauft haben, um für den Unterhalt einer armen Frau zu sorgen. Entscheidend ist nicht der Besitz des Buchstabens, sondern der verinnerlichte Geist des Buchstabens. Die grundlegende und vorgelebte Erkenntnis des Armen von Assisi bleibt: Christliche Praxis ist nicht zu haben ohne die radikal-geistliche Bindung an das Evangelium und dessen geistliche Verinnerlichung, aber auch nicht ohne kreative Auslegung in der «Freiheit des Geistes».