Das Motiv des Weinstocks ist ein zentrales Bild in unserer jüdisch-christlichen Tradition. «Ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt», heisst es in der vielleicht bekanntesten Schriftstelle, die das Bild des Weinstocks aufgreift, im Johannesevangelium. Es bringt uns nahe, was unsere Sendung als Christinnen und Christen ist: Frucht bringen.
Tobias Karcher
Klassisch wird diese Schriftstelle so ausgelegt, dass wir Menschen die Rebzweige sind und Gott der Stamm und dass diese Beziehung für uns lebensnotwendig ist. Aber für uns Christen begegnet uns Gott nicht nur im Evangelium, sondern auch in den anderen Menschen, in der Natur, in unserer Innerlichkeit. So scheint mir, geht es in diesem Gleichnis und in den anderen Wachstumsgleichnissen nicht nur um unsere Gottesbeziehungen, sondern um unsere Beziehungsfähigkeit.
Was macht lebendige Beziehungen aus? Beziehungen leben davon, dass auf der einen Seite wir uns engagieren, dass wir aber auf der anderen Seite auch bereit sind, zuzuhören, geschehen zu lassen. Damit unsere Beziehungen gelingen, braucht es beides, Aktivität ebenso wie Empfänglichkeit.
Fruchtbarkeit heisst also nicht einfach Leistung erbringen. Aber Leistung ist buchstäblich nur die eine Seite der Medaille, damit Leben und damit Beziehungen gelingen.
Diese Unterscheidung ist wesentlich, denn die Gesellschaft, in der wir leben, ist beherrscht von einem Leistungsdruck. Manche von uns haben vielleicht schon früh erfahren, dass alles verdient werden müsste: Geld natürlich und Karriere, aber auch Anerkennung, Dankbarkeit und manchmal sogar Liebe. Menschen, denen dies als Kinder beigebracht wurde, leiden oft ihr ganzes Leben darunter, dass sie nicht einfach so liebenswert seien, sondern meinen, ihre Liebe erst verdienen zu müssen. Das ist fatal. Jede und jeder von uns ist liebenswert und wird geliebt, noch bevor wir etwas leisten, das ist eine Hauptaussage des Evangeliums.
Bei einem einseitigen Leistungsdenken wollen wir alle Fäden in der Hand und alles im Griff haben. Aber mit solch einer Haltung gehen Beziehungen zu Bruch. Beim Fruchtbringen bleibt Raum für das Geschehen-Lassen und das Geschenk.
Fruchtbarkeit achtet auf Grenzen, Grenzen in uns und Grenzen in der Natur. Wenn ich an meine körperlichen Grenzen stosse, vielleicht braucht es dann eine Pause, etwas Bewegung, frische Luft. Wenn wir die Signale unseres Körpers nicht mehr wahrnehmen, ist die Gefahr da, dass wir ausbrennen.
In den letzten Jahrzehnten haben wir die Entdeckung gemacht, dass wir Erde und Natur über ihre Grenzen hinaus ausgebeutet haben. Wir haben die Umwelt geschädigt, weil wir Grenzen nicht anerkannt haben.
Schliesslich hat die Natur auch ihre eigene Schönheit. Nicht jede Frucht ist vollkommen gestaltet. In der Leistungsgesellschaft ist oft vieles normiert, bis hin zum Schönheitsideal. Dabei hat jeder Mensch seine eigene Schönheit.
Das Bild des Weinstocks kann uns Christen in Erinnerung rufen, dass nicht nur Leistung zählt, sondern auch das Zulassen und Geschehen-Lassen; so können Beziehungen gelingen zu Gott und Mensch.