Ströme in den Zellen, die regenerieren

Der Biologe Michael Levin von der Tufts University in Boston geht mit seiner Forschung ganz neue Wege. Er setzt auf nachwachsende Organe dank Bioelektrizität.

Sara Huber

 

Zweiköpfige Würmer und Kaulquappen mit einem Auge auf dem Rücken. So sieht es im Reich des Biologen Michael Levin aus. Er gilt als Pionier der Bioelektrizität, ein noch junges Forschungsgebiet. Es zielt darauf ab, die elektrischen Ströme zu verstehen und zu manipulieren, die zwischen den Zellen fliessen. Denn sie koordinieren die Entwicklungs- und Regenerationsprozesse des Körpers vom Menschen und Tieren. Levin spricht von einem bioelektrischen Code. Es handelt sich dabei um ein Muster von Spannungspotenzialen in Geweben, Organen oder Zellgruppen, die Informationen über deren Funktion enthalten. Elektrische Spannungen entstehen durch die Wirkung von Ionenkanälen – winzige Proteine auf der Zelloberfläche, die den Eintritt und Austritt von Ionen (zum Beispiel von Kalium und Natrium) ermöglichen und so eine Spannungsdifferenz wie bei einer Batterie erzeugen.

Der Forscher ist davon überzeugt, dass die Entschlüsselung des bioelektrischen Codes neue Lösungen zur Vorbeugung oder Bekämpfung zahlreicher Krankheiten, angefangen bei Krebs, ermöglichen könnte. Er hofft auch, dass es auf diese Weise gelingen könne, neue Gliedmassen oder Organe nachwachsen zu lassen. Denn es sind elektrische Ströme, die bereits in der Embryonalentwicklung die Zellen zur Zusammenarbeit koordinieren. Elektrische Muster rufen

Zellen zusammen und orchestrieren ihr Funktionieren im Embryo, sodass sie Ohren, Augen, Nasen und Beine bilden. Daraus ergibt sich für Levin die Logik, dass Bioelektrizität auch für neue Behandlungsformen genutzt werden könne.

 

Seit Jahrzehnten wird versucht, Zellen mit Medikamenten oder gentechnischen Verfahren zu verändern, um Krankheiten zu heilen. Neu ist nun die Strategie, Gruppen von Zellen über die elektrischen Signale zu steuern, die sie zur Kommunikation und Selbstorganisation nutzen, das mit dem Ziel, eine Heilung zu erwirken.

Die Entdeckung des sogenannten Verletzungsstroms, ein elektrischer Impuls, der erzeugt wird, wenn Gewebe geschnitten oder beschädigt wird, geht auf das 20. Jahrhundert zurück. 2011 baute Riccardo Nuccitelli, damals Wissenschaftler an der Old Dominion University in Virginia, ein Gerät, das diesen Strom messen kann. Dieses Stromfeld wirkt wie ein Leuchtfeuer für Zellen, die sich zum Wiederaufbau von Gewebe bewegen. Es ist nach einer Verletzung am stärksten und nimmt ab, wenn die Heilung einsetzt. Wunden, von denen ein stärkerer Strom ausgeht, heilen schneller als solche, bei denen das Signal schwächer ist. Es wurde auch festgestellt, dass der Strom mit dem Alter abnimmt: Mit 65 Jahren ist er nur noch halb so stark wie mit 25 Jahren.

In der Zwischenzeit führten andere Forscher Experimente durch, um den Strom in der Läsion zu manipulieren. Überzeugt von der Rolle eines Schalters, der bestimmte Gennetzwerke an- und ausschaltet, fanden sie heraus, dass eine Störung der Ionenkanäle in den Zellen der Hornhaut des Auges die Heilung verlangsamt, während eine elektrische Stimulation sie beschleunigen kann. Das US-Verteidigungsministerium hat nun ein Projekt zur Bioelektrizität gestartet mit dem Ziel, die Heilungszeit bei schweren Verletzungen zu halbieren. Klinische Versuche sollen im Jahr 2024 beginnen.

Das ultimative Ziel dieser Forschungslinie ist nicht nur die Heilung einer Wunde, sondern die Neuschaffung von Gliedmassen und Organen. Durch die Veränderung des bioelektrischen Codes ist es bereits

gelungen, einigen Würmern einen zweiten Kopf wachsen zu lassen und Froschbeine zu regenerieren.