Die Notübernahme der Credit Suisse durch die UBS sorgt seit Wochen für zahlreiche Medienberichte. Im Zentrum steht dabei immer die Frage, wer versagt habe – Management, FINMA oder Bundesrat. Die Rolle des Gewissens wurde hingegen nicht thematisiert. Der Benediktiner und Ökonom Markus Muff geht hier dieser Frage nach.

 

Zum Thema der von den Behörden verhängten Integration der Credit Suisse in die UBS wurde viel geschrieben. Eher zu kurz kamen die Themen von Gewissen und Verantwortung. In welchem Verhältnis stehen Gewissen, Verantwortung und Regelwerk?

Im gesellschaftlichen Kontext braucht es eine Vielzahl von Gesetzen, Vorschriften und Verboten. Auch die Bibel publiziert Sammlungen solcher Regeln: Die sogenannten Zehn Gebote (Dekalog) sind ein Fundament für (spätere) Rechtssammlungen geworden.

Der Codex Hammurapi ist eine noch ältere verschriftlichte Version von Regelungen (18. Jahrhundert vor Christus). Die Intention des jüdischen Dekaloges jedoch war es nicht, eine Sammlung juristischer Gesetzes-Artikel zu veröffentlichen. Die Zehn Gebote zeigen vielmehr eine Form des (Zusammen-)Lebens auf, die einer Glaubensgemeinschaft möglich ist, die sich durch das rettende Eingreifen Gottes in Freiheit durch das Leben bewegt.

Gott gibt seinem Volk das gute Leben unter der Bedingung, dass sich die Menschen an grundsätzlichen Verhaltensweisen orientieren.

Die Zehn Gebote existieren in zwei Fassungen: die ursprünglichere im Buch Exodus (Kapitel 20), eine spätere im Buch Deuteronomium (Kapitel 5). Die einzelnen Gebote können unterschiedlich aus dem hebräischen Originaltext in die deutsche Sprache übertragen werden; das verändert auch ihren Anspruch.

Entscheidend ist die Rahmenerzählung zum Dekalog (Framing). Innerhalb dieses Rahmens müssen wir die Zehn Gebote adäquat lesen, interpretieren und verstehen.

Das Framing lautet: «Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus.» (Ex 20.2) Es folgen die Gebote (Verse 3 bis 17).

Am Schluss wird das Framing vervollständigt: «Die Furcht vor ihm (Jahwe) soll über euch kommen, damit ihr nicht sündigt.» Mose fordert das Volk zur Gottesfurcht auf! «Gottesfurcht» meint, dass die Hebräer Ehrfurcht vor Gottes Heilshandeln entwickeln mögen; Gottesfurcht meint Hingabe an Gott, nicht Angst vor einem strafenden Pädagogen.

Auf diese Heilstat Gottes (Befreiung aus der Sklaverei) antwortet das Volk mit Wohlverhalten, ausgedrückt im Dekalog.

Es ergeben sich folgende Einsichten: Eines der Fundamente unserer (europäischen) Rechtsordnung bildet der Dekalog – Gottes Heilshandeln geht ihm voraus. Die Antwort der Hebräer auf Gottes Rettung aus Ägypten ist geordnetes Leben; ein gottesfürchtiges Leben gemäss den Geboten des Dekaloges.

Die Hebräer vergassen ab und an, ihr Leben am Dekalog auszurichten. Regelmässig vergassen sie, sich die Gottesfurcht vor Augen zu halten. Die Bibel beschreibt ihre Geschichte in «Nähe und Distanz» zum Dekalog, zum Bund mit Jahwe.

Was hat das mit uns zu tun? Wieso die Diskussion um Aufsicht, Kontrolle, Risk-Management und die Zwangsfusion von Grossbanken in einen Zusammenhang mit dem Dekalog bringen?

Es reicht eben nicht, allein Zahlen und Ergebnisse wirtschaftlichen Handelns anzuschauen und zu beurteilen. Wirtschaftliches Handeln muss sich – wie jedes Handeln – im Kontext verantworten. Der Kontext geht über eine rein technische Regulierung hinaus.

  • In der Bibel braucht das konkret erwartete Handeln der Hebräer ein Framing (Heilshandeln und Gottesfurcht).
  • Ebenso braucht unser heutiges (wirtschaftliches) Handeln ein Framing.

Ist eine gesellschaftlich breit akzeptierte Rahmenhandlung – entsprechend dem Framing der Bibel – für unser aktuelles Selbstverständnis noch massgebend? Ein Rahmen also, der Gottes Heilshandeln voraussetzt und die Gottesfurcht ernst nimmt?

Zwei Punkte sind zu bedenken: das Heilshandeln Gottes und die Gottesfurcht.

Historisch sind wir sehr weit weg vom Ereignis der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten. Doch gibt es Parallelen: Das Heilshandeln Gottes könnten wir darin erkennen, dass wir auf unserem Planeten alles vorfinden: Bodenschätze, Luft und Wasser. Unsere Lebensfundamente (Licht und Wärme, produktive Natur, bereits genügend gut organisiertes biologisches Leben) sind nicht von Menschen gemacht: Wir finden sie „gratis“ in der Schöpfung vor. Es gilt, Sorge zu tragen für Ressourcen jeglicher Art – nicht zuletzt für uns Menschen selbst!

Und die Gottesfurcht? Ja – die Ehrfurcht vor Gott scheint uns eher abhandengekommen. Wohl gilt: Was nicht explizit verboten ist, das nehme ich mir. Koste es, was es wolle; Hauptsache, ich kann mich bereichern.

Das Beispiel zusammenbrechender Banken zeigt, dass die Einhaltung formaler Vorschriften, die Präsentation makelloser PowerPoint-Geschichten und die Veröffentlichung ästhetisch vollkommener Geschäftsberichte eine Art Scheinwelt produzieren können. Scheinwelt und harte Wirklichkeit können leicht verwechselt werden.

An der Perfektionierung von Scheinwelten zu arbeiten, lohnt nicht!

Echte Gottesfurcht geht davon aus, dass Gott sowieso die Wahrheit kennt; dass wir Menschen in unserer (manchmal auch erbärmlichen) Wirklichkeit vor Gott stehen! Es nützt nichts, sich zu verstecken (was die Geschichte von Adam und Eva zeigt). Es nützt nichts, sich mit falschen Argumenten zu rechtfertigen.

Gottesfurcht stellt ab auf unsere ur-menschliche Erkenntnis, dass die Wahrheit immer ans Licht kommt.

Wer Leben, Glauben und Hoffnung im Hinblick auf die Gottesfurcht ausrichtet, geht anders mit seiner Existenz um als selbstherrliche Menschen; als jene, die sich allein genug sind.

Gewissen und Verantwortung: Unsere jüdisch-christliche Kultur setzt voraus, dass wir in Ehrfurcht vor Gott und in Verantwortung vor unseren Mitmenschen leben und handeln. Es ist daher nicht sinnvoll, unsere persönliche und gemeinschaftliche (auch wirtschaftliche) Verantwortung zu delegieren. Zu delegieren an abstrakte Regelwerke, zu delegieren an hoch angesehene Experten und zu delegieren an imagegerechte Publicity. Gewissensentscheide und Verantwortung müssen wir persönlich wahrnehmen! Sowohl individuell als auch institutionell. Nur so werden wir unserem tradierten Bezugsrahmen wieder gerecht: dem Heilshandeln Gottes und der Gottesfurcht. Diesem Framing müssen wir uns stellen.