Früher verbanden nach einem Todesfall Riten die Menschen. Die Bedeutung von Leben und Tod wurde kollektiv erlebbar. Davon hat sich heute viel verflüchtigt. Für Hanspeter Schmitt, Ethikprofessor an der Theologischen Hochschule Chur, nützt es aber nichts, der einstigen Wirkung christlicher Rituale einfach nachzutrauern. Fantasievoller sei es, offen für neue Formen zu werden.

Hanspeter Schmitt

 

Als Vater vor fünf Jahren starb, legte er uns ans Herz, ihn nicht im Grab zu suchen. Denn er sei auch nach seinem Tod in unseren Gedanken, Beziehungen und Begegnungen seien präsent, und bei Bedarf würde er sogar etwas «mitmischen». In unserer Familie besteht an dieser Form seiner Gegenwart in der Tat kein Zweifel, auch wenn sie nicht mehr so leicht greifbar und offensichtlich ist wie zu seinen Lebzeiten. Trotzdem suche ich immer wieder sein Grab auf, verweile dort eine Zeit lang, entzünde meistens eine Kerze, nicht zuletzt, um dem Bewusstsein seines fortdauernden Wirkens unter uns und seiner bleibenden Bedeutung einen persönlichen Ausdruck zu geben. Vor einigen Jahrzehnten war ein solches persönliches Gedenken noch eingebunden in den Vollzug kollektiver Riten. Ihr Mitvollzug war in einer Weise kulturell verbindlich und eingeübt, dass man sich dem kaum entziehen konnte. Aber diese Riten verbanden die Menschen unseres Kulturkreises auch. Durch den gemeinsamen Gang zu den Gräbern und die dort gefeierten Rituale vermittelte sich die Bedeutung elementarer Grunderfahrungen des Lebens und Sterbens. Man bestärkte sich in dem Bewusstsein und in

der Hoffnung, dass ein bleibendes Miteinander zwischen den jetzt Lebenden und den schon Gestorbenen bestehe und dass in dieser Weg- und Schicksalsgemeinschaft noch Bedeutsames ausgetauscht, gelöst und bewirkt werden könne. Nicht nur dieses christlich getragene kollektive Erinnern, das traditionsgemäss Anfang November an Allerheiligen und Allerseelen begangen wurde, hat sich kulturell schleichend verflüchtigt. Genauso ist es anderen christlichen Riten ergangen, die vormals mittels ihrer Botschaft und Zeichen dazu dienten, Sinn und Hoffnung zu stiften. Angesichts der Offenheit, Grenzen und Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz, aber auch im Bewusstsein von Zufriedenheit und Glück, machten sie anschaulich und verstehbar, wie «Erde und Himmel» zusammenhängen: Wo hat die Schöpfung, wo hat die irdische Reise ihren Anfang, wohin zielt sie? Und welcher Sinn trägt unser Dasein im «Grossen und Ganzen» oder dann, wenn Prestige und Konsum allein nicht erfüllend sind? Es nützt nichts, der einstigen Wirkung christlicher Feste fantasielos nachzutrauern. Ihr Verschwinden hat mit der Öffnung von Kultur und Biografien für unterschiedlichste Sinn-, Ritus- und Weltanschauungsangebote zu tun, genau wie mit der Freiheit und Würde von Menschen, sich auch in ihren existenziellen Lagen und Sinnfragen selbstbestimmt zu orientieren. Das Bedürfnis nach Sinn, der die eigene Existenz über alle Grenzen trägt und Diesseitiges mit den Sphären jenseits davon verbindet, besteht weiterhin. Es sucht sich aber alternative Formen der Feierlichkeit und Gestaltung. Halloween ist hierfür das jüngste Beispiel, auch wenn im grellen Marketing und in der Partylaune dieses Events das originäre Motiv eines Austausches mit guten wie beängstigenden Geistern und ihrer «Bändigung» unterzugehen droht. Wer aber professionelle schamanische Kurse besucht, sorgsam gestaltete Sonnwendfeiern erlebt oder am tiefen Ernst ganzheitlicher Initiations-, Reinigungs- und Abschiedsrituale teilhat, der erfährt die Vitalität unverbrauchter Wege, Alltag und Leben zu transzendieren: Destruktives überwinden; sich selbst annehmen, zugleich über das eigene Ego hinausgehen; eins werden mit den universalen Prozessen des Reifens und Liebens. All das wird heute über ursprüngliche wie innovative Medien des Spirituellen vermittelbar. Das ist keine Absage an kirchliche Riten und Liturgien, legt aber ihre Probleme offen:

Werden sie «eingefroren» tradiert, sprich in Form und Inhalt erstarrt, lebensfern, gar unverständlich oder belehrend, verlieren sie den Anschluss an die ästhetische, existenzielle und spirituelle Grammatik ihrer Epoche. Ihr Sinn vermittelt sich so nicht! Dabei böte die christliche Kunstgeschichte Beispiele für gelungene Vermittlung: Gaudís berühmte Sagrada Familia in Barcelona etwa oder Bilder und Kapitelle mittelalterlicher Kirchen knüpfen gezielt an die Ästhetik und Vorstellungswelt ihrer Zeiten an. So erschliessen sie überaus eindrücklich eine christliche Deutung der heilsamen Interaktion irdischer, geistiger und göttlicher Kräfte. Die Bedingung dafür aber ist, vom symbolischen Ausdruck und von den Riten der jeweiligen Zeit zu lernen, anstatt sie überheblich und pauschal als säkular oder bedeutungslos abzutun. Kirchliche Basis- und Jugendbewegungen sind hier längst weiter als Kirchenleitungen, die formalistisch auf die festgelegten Abläufe und dogmatisch verschlüsselten Textbestände ihrer Liturgien pochen. Andernorts hingegen wirken einfache Worte, atmosphärisch verbindende Klänge, Stille und nahbare Begegnungen nachweislich inspirierend und grenzübergreifend anziehend. Lebensweltlich geübte Bild-, Klang-, Sprach- und Bewegungsformen machen die Symbolkraft verwendeter Zeichen und Gesten wieder spürbar. Ihre tiefe Bedeutung tritt sinnlich hervor! Das «ergreift» Beteiligte und lässt jenen Sinn ahnen, der nicht vollends «begriffen», aber gefeiert werden kann.