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Das Chorgestühl der Luzerner Hofkirche verbirgt nicht nur eine anti-reformatorische Botschaft, in ihm ist auch eine gleichsam spirituelle Choreografie angelegt. Im zweiten Teil geht es um ein be-sonderes Motiv. Es bekrönt das Chorgestühl wie bei keinem anderen in der Schweiz.

Urs-Beat Frei

Auffällig und zugleich bezeichnend für den Kontext eines Kanonikerstifts im 17. Jahrhundert ist, dass sich unter den zwanzig Heiligen lediglich vier Frauen befinden. Neben der hl. Verena sind dies die hl. Luzia, die hl. Agnes und die hl. Maria Magdalena. Für das Verständnis des Chorgestühls ist es aller-dings entscheidend, wie oben angedeutet, nicht bloss bei der namentlichen Identifikation der darge-stellten Heiligen stehen zu bleiben, sondern zu fragen, warum ausgerechnet diese Heiligen ausge-wählt wurden, wobei ebenso aufschlussreich ist, welche nicht zur Darstellung kamen. Nur so lässt sich der sinnstiftende Zusammenhang, das theologisch-pädagogische Programm des Chorgestühls, vollständig erschliessen; nur so offenbart sich eine ganze, notabene aber auch – wie immer – zeitbe-dingte katholische Glaubenswelt.

Wenn wir jetzt nochmals die theologischen Programme mittelalterlich-gotischer Chorgestühle zum Vergleich heranziehen, so können wir weiter feststellen, dass diese nur durch eine diachrone (heils-geschichtliche) Lektüre verständlich werden, wohingegen unser nachtridentinisches, in Teilen bereits frühbarockes Chorgestühl durch eine synchrone Lektüre seine Bedeutung erhält. Das heisst, die Aus-sage der ersteren ergibt sich durch das zeitliche Nacheinander der Motive, insofern diese in der Regel dem Schema von Ankündigung (Altes Testament, Propheten) und Erfüllung (Neues Testament, Chris-tus, Apostel) folgen, während das Chorgestühl in der Luzerner Stiftskirche die Gleichzeitigkeit, das Miteinander der einzelnen Motive, also die Gemeinschaft der Heiligen betont.

In eben diese ‹Gemeinschaft der Heiligen› – was auch eine andere Bezeichnung für ‹die Kirche› ist –, der Zeugen des wahren Glaubens, nimmt das Chorgestühl die Chorherren auf. Oder anders herum formuliert: Als (wie alle Christen) zur Heiligkeit Berufene reihen sich diese durch ihre Präsenz im Chorgestühl physisch in die Schar der Heiligen ein zum gemeinsamen Gotteslob. Vor dem Zeithinter-grund der Konfessionalisierung und im Kontext der Gegenreformation, deren Zentrum für die

Schweiz Luzern war, ist das theologisch-pädagogische Programm des Chorgestühls somit nicht nur ein entschiedenes ‹ideologisches› Statement gegen die Reformation; sozialpsychologisch gesehen kommt ihm überdies gleichermassen die Funktion der Stärkung der ‹Gruppenidentität› der Chorher-ren zu.

Spirituelle Choreografie
Zur Schar der Heiligen, exakt in der Mitte zwischen je fünf von ihnen, tritt im Programm des Chorge-stühls auf beiden Seiten ein Erzengel hinzu: Michael, der mit seinem Kreuzstab Satan besiegt, und Raphael, der schützend den kleinen Tobias begleitet. Sie, die beiden Erzengel, bilden gewissermassen die Verbindung zum oberen ‹Register› des Chorgestühls. Es besteht aus hochovalen Schilden mit Wappen und wird zentral durch das einzige biblische Motiv, die räumlich inszenierte Darstellung des Ereignisses von Mariä Verkündigung, überragt und monumental bekrönt. Mit der Gestalt Gabriels er-füllt sich hier die Dreizahl der (kanonischen) Erzengel. Unter einem zweigeschossigen, runden Balda-chin tritt dieser mit mächtigen Flügeln und ausladendem Sprechgestus sowie in der linken Hand eine Lilie haltend auf Maria zu. Sie sitzt, vertieft in ein Gebetbuch oder bereits den Worten des Engels nachsinnend, auf der gegenüberliegenden Seite, wobei unmittelbar unter dem sie schützenden Bal-dachin der Heilige Geist in Gestalt einer Taube zu erkennen ist. Auf keinem anderen Chorgestühl der Schweiz hat ein marianisches Motiv eine derart prominente, ja im wörtlichen Sinn überragende Stel-lung. Vor dem Zeithintergrund erweist sich dieses als eine zusätzliche Spitze gegen die Reformation, die bekanntlich die Verehrung von Marienbildern und die Anrufung Marias als Fürbitterin ablehnte.

Unabhängig davon realisiert sich im Motiv des ‹Englischen Grusses› durch seine räumliche Inszenie-rung auf dem Chorgestühl eine gleichsam spirituelle Choreografie. Sind, wie gezeigt, sowohl das Chorgestühl durch seine Zweiteiligkeit als auch das Chorgebet durch seinen wechselweisen Vollzug in zwei Gruppen bereits dialogisch und inklusiv angelegt, so ist – beide übergreifend – im oberen Regis-ter ein eigentliches, ja heiliges Gespräch dargestellt. Reihen sich die Chorherren beim Chorgebet in die Schar der Heiligen ein, so werden sie, wenn sie den ‹Englischen Gruss› in den Blick nehmen wol-len, nun auch in das biblische Geschehen physisch mit einbezogen. Denn die ‹Verkündigung› kann vom Chorgestühl aus nicht mit nur einem einzigen Blick wahrgenommen werden: Um einerseits den Anruf des himmlischen Boten («gegrüsst seist du Maria») sowie andererseits die Einwilligung der Jungfrau Maria («mir geschehe, wie du gesagt hast») erfassen zu können, muss man sich körperlich von der einen Seite zur anderen drehen. Schliesst diese Bewegung, also der körperliche Mitvollzug, den spirituellen nicht bereits ein, so fordert er ihn doch gewiss heraus, ja stösst ihn an. Und weil die Szene im «Ja» Mariens kulminiert, erweist sich dieser Mitvollzug, der noch über ein rein visuelles Be-trachten hinausgeht, als eigentlich leiblich-geistliche Teilhabe an eben diesem heiligen Gespräch. Das wiederum kann als weiterer Bestandteil des anti-reformatorischen Programms des Chorgestühls ge-deutet werden: Der im «Ja» Mariens besonders zum Ausdruck gebrachte Glaubensakt ist im katholi-schen Verständnis gerade nicht nur etwas bloss Geistiges, Intellektuelles und auch nichts ausschliess-lich Individuelles. Denn die Teilhabe an dem heiligen Gespräch, welche sich zugleich als Teilnahme erweist, wird mit jeder Verrichtung des Chorgebets sowohl individuell als auch kollektiv bekräftigt. Sozialpsychologisch gesehen erfährt auf diese Weise die Gruppenidentität der Luzerner Chorherren zusätzlich zur horizontalen Stärkung (durch die Heiligen) auch ihre eigene, gleichsam ganzheitliche vertikale Verankerung im göttlichen Geheimnis.

 

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