Konflikte in der christlichen Gemeinschaft

Nach dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 lebten rund 1,5 Millionen Christen im Irak. Heute sind es noch 250 000. Neben externen Faktoren spielen zunehmend interne eine Rolle für den Exodus: Den irakischen Christen droht eine Spaltung.

Lucas Lamberty

 

Am 3. Juli 2023 widerrief der irakische Präsident Abdul Latif Raschid ein Dekret aus dem Jahr 2013, das Patriarch Louis Sako als Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Kirche im Irak anerkennt. Seit der Zeit der Abbasiden wird die Autorität der Patriarchen im Irak und in anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens durch entsprechende Dekrete von staatlicher Seite offiziell anerkannt. Raschid begründete den Bruch mit dieser Tradition mit einer fehlenden gesetzlichen und verfassungsgemässen Grundlage: Da es sich bei Kardinal Sako um einen religiösen Führer und nicht um einen Staatsangestellten handele, sei der Heilige Stuhl für dessen Ernennung und Abberufung zuständig. Der religiöse und rechtliche Status des Patriarchen wird laut Raschid durch den Widerruf des Dekrets daher nicht gefährdet.

 

Das chaldäische Patriarchat reagierte dennoch überrascht und bezeichnete in einer Stellungnahme den Widerruf des Dekrets als beispiellos in der Geschichte des Irak. Trotz der Erklärungsversuche des Präsidenten fürchtet die chaldäische Kirche den Verlust weitreichender Befugnisse zur Verwaltung ihres Eigentums und Vermögens. Im Irak hat

jede religiöse Gruppe ihre eigene Kommission zur Verwaltung der sogenannten Stiftungsgelder. Das nun widerrufene Dekret sicherte Patriarch Sako die Aufsicht über das Stiftungsvermögen der chaldäischen Kirche zu. Ob der Widerruf des Dekrets den rechtlichen Status des Patriarchen tatsächlich unberührt lässt, ist rechtlich unklar und umstritten. Der Kardinal hat aufgrund des Vorfalls seinen Amtssitz in Bagdad verlassen und leitet die kirchlichen Angelegenheiten vorübergehend aus einem Kloster in der autonomen Region Kurdistan-Irak.

 

Die Aufhebung des Dekrets durch den irakischen Präsidenten stellt den bisherigen Höhenpunkt einer Auseinandersetzung dar, die seit Monaten schwelt. Hierbei handelt es sich um einen Konflikt im christlichen Lager zwischen Kardinal Sako und dem Anführer der christlichen Babylon-Bewegung, Rayan al-Kildani, der zunehmend zu einer Spaltung der christlichen Gemeinde im Irak führt. Dabei geht es um die Frage, wer der legitime Vertreter der christlichen Gemeinschaft im Irak ist. Al-Kildani, selbst ein chaldäischer Christ, machte sich zunächst als Kommandeur der Babylon-Brigade einen Namen. Im Zuge des unerwartet schnellen Vormarschs des IS auf Mossul formierten sich im Sommer 2014 die sogenannten Volkmobilisierungseinheiten (arabisch: al-Haschd asch-Schaʿbi) – ein loser Dachverband von 40 bis 60 Milizen – zur Bekämpfung der Terrororganisation. Als 50. Brigade der Volksmobilisierungseinheiten beteiligte sich die Babylon-Brigade unter der Führung al-Kildanis an diesem Kampf und gab dabei an, christliche Interessen zu vertreten. Dies hat zu einem umstrittenen Verhältnis mit der chaldäisch-katholischen Kirche geführt, die mit rund 200 000 Mitgliedern die grösste christliche Gemeinde im Irak stellt. Das chaldäische Patriarchat und Kardinal Sako haben sich wiederholt von al-Kildani und seiner Brigade distanziert und scharfe Kritik geäussert. Ihrer Meinung nach müssen sich die Christen für einen nachhaltigen Frieden im Irak von bewaffneten Gruppierungen und Milizen wie der Babylon-Brigade abgrenzen. Stattdessen sollen sie sich den regulären irakischen Streitkräften anschliessen.

 

Das US-Finanzministerium verhängte 2019 Sanktionen gegen al-Kildani aufgrund schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen. Laut der US-Behörde stellt seine Babylon-Brigade das Haupthindernis für die Rückkehr von christlichen Binnenvertriebenen in die Ninive-Ebene im Nordirak dar. Hinzu kommt aus amerikanischer Sicht al-Kildanis Nähe zum Iran und insbesondere zu den Quds-Kräften der iranischen Revolutionsgarden. Die enge Verbindung zur selbst ernannten Schutzmacht der Schiiten zeige sich auch in der religiösen Zusammensetzung der Miliz: Trotz der christlichen Fassade bestehe sie überwiegend aus schiitischen Muslimen aus dem Süden des Irak. Die Babylon-Miliz soll aus US-Sicht darüber hinaus an der illegalen Beschlagnahmung von christlichem Land in der Ninive-Ebene und dessen Verkauf beteiligt gewesen sein. Von amerikanischer Seite wird kritisiert, dass die Babylon-Brigade damit im direkten Interesse des Iran handle, der versuche, einen ethnisch-konfessionellen Wandel in der christlich geprägten Region voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund warf Kardinal Sako, der selber im christlichen Lager nicht unumstritten ist, dem Anführer der Babylon-Brigade wiederholt vor, nicht die Interessen der Christen zu vertreten. Al-Kildani wiederum beschuldigte den Patriarchen, sich während der Herrschaft des IS aus der Verantwortung gezogen und sich nicht ausreichend für den Schutz der Christen im Irak eingesetzt zu haben. Beide bezichtigen sich darüber hinaus gegenseitig der Korruption und Veruntreuung von öffentlichen Geldern.

Der Konflikt zwischen Patriarch Sako und al-Kildani hat längst eine politische Dimension erreicht. Im Kern geht es um die Frage, wer die Christen im Irak auf politischer Ebene vertritt. Wie viele andere Milizen der Volksmobilisierungseinheiten hat sich auch die Babylon-Brigade als politische Partei etabliert. Die sogenannte Babylon-Bewegung wird ebenfalls von Rayan al-Kildani geführt und konnte in der Vergangenheit politische Erfolge verzeichnen. Bei den Parlamentswahlen 2021 gewann sie vier der fünf für Christen reservierten Sitze im irakischen Parlament. Für Patriarch Sako ist das Wahlergebnis jedoch nicht der Ausdruck politischer Legitimität, sondern das Resultat eines unfairen Wettbewerbs: Wie die Basis der Miliz bestehe auch die Wählerschaft der Babylon-Bewegung zu einem beachtlichen Anteil aus schiitischen Muslimen.

Kardinal Sako hatte sich deshalb bereits kurz nach der Wahl in der Diskussion um die Funktionalität entsprechender Quoten für Minderheiten im irakischen Parlament zu Wort gemeldet. Er forderte die irakische Regierung dazu auf, entsprechende Massnahmen gegen die Babylon-Bewegung zu ergreifen, da sonst christliche Interessen im Parlament nur noch unzureichend vertreten würden.

 

Fussnote:

Zusammenfassung einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung.