Das Unangenehme am Krieg, sagte Kant, sei die Tatsache, «dass er mehr böse Menschen produziert, als er deren wegnimmt». Bei der Medizin könnte man analog den Eindruck bekommen, die jahrelange Erfahrung mit dem medizinischen Alltag würde mehr vom Geld getriebene Ärzte produzieren, als die Ethik deren wegnähme.
Jürg Knessl
Eine frühere Studie des Universitätsspitals Zürich konnte eindrücklich aufzeigen, dass ein begleitender Ethik-Unterricht bei den angehenden Juristen, Naturwissenschaftlern und Ökonomen die Sensibilität für ethische Fragen zwar steigert, bei den Medizinstudenten beiderlei Geschlechts dies hingegen nicht tut. Das Gespür für und das Interesse an ethischen Fragen sinken nämlich bei den Medizinern bis zum Ende des Studiums kontinuierlich. Niemand weiss, warum das so ist. Ein positives Zeichen für die Zukunft ist es nicht.
In Kants «Kritik der praktischen Vernunft» findet sich eine wenig beachtete, aber dafür umso wichtigere Anleitung, wie man es innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenlebens doch vernünftiger und dadurch auch besser machen könnte. Es ist die sogenannte «Als ob»-Philosophie. Diese geht so: Was bringt es, wenn wir uns den Kopf zerbrechen, ob es Gott tatsächlich gibt oder nicht, ob der freie Wille real ist oder eine Illusion, ob wir alle determiniert und dadurch fremdbestimmt sind oder ob echte Freiheit möglich ist, ob es wahre Liebe gibt und ob das menschliche Leben einen Sinn hat? Des Wegweisens ist kein Ende und wir kommen nicht weiter. Ist es nicht viel sinnvoller, schon um eines friedvollen gesellschaftlichen Zusammenlebens willen, uns einfach so zu verhalten, ALS OB all diese positiven und erträumten Vorstellungen wahr und realisierbar wären? Diese Art zu denken und an Probleme, heutige wie künftige, heranzutreten ist wahrscheinlich der einzig verbleibende würdige Weg, eine Medizin, welche diesen Namen auch verdient, zu erhalten und als Dienst an den Menschen weiterzuentwickeln.
Ein Philosophieprofessor in Basel lehrte: «Gut ist, was das bestehende menschliche Leben fördert.» Ein so einfacher wie wahrer und brauchbarer Satz. Leider bewegt sich in der Medizin die Entwicklung der letzten Jahrzehnte in die entgegengesetzte Richtung. Was ist die Aufgabe der Medizin? Für Francis Bacon, englischer Philosoph in der Zeit des Übergangs vom 16. zum 17. Jahrhundert, waren es drei Ziele: «Primum est conservatio sanitatis, secundum curatio morborum; tertium prolongatio vitae»: An erster Stelle steht die Erhaltung der Gesundheit, somit die Prophylaxe, darauf folgt die Heilung der Krankheiten, zuletzt dann die Verlängerung des Lebens.
In den letzten 2500 Jahren, seit die Medizin in unserem Sinne besteht, gab es viele Phasen der Entmenschlichung und des Missbrauchs des medizinischen Wissens. Heute scheint es zum Teil darum zu gehen, die Menschheit als solche in ihrer Existenz zu limitieren beziehungsweise gegenüber bestimmten Gesellschaftsgruppen das Lebensrecht zu relativieren. Umso mehr ist es angezeigt, wachsam zu sein und für das Leben und die Würde des Menschen einzustehen. Ältere Menschen benötigen Respekt und Schutz, sie dürfen nicht als «unnütze Esser» oder Schuldige an praktisch allem, was heute beklagt wird, geopfert werden. Die Idee der Euthanasie, als «Sterbehilfe» bekömmlicher gemacht, greift, in Europa sich vom Nordwesten her ausbreitend, so, «wie der Nordwind den Garten verwüstet» (Khalil Gibran), um sich. Doch «Sterbehilfe» ist Hilfe «beim Sterben» und nicht «zum Sterben». Wir müssen einen Marschhalt einlegen und dem menschlichen Leben wieder den Wert zuerkennen und den Respekt zollen, den es verdient. Nicht alles ist quantifizierbar und nicht alles, was medizinisch wichtig ist, muss sich auch monetär rentieren.
Fussnote
Jürg Knessl. Orthopädischer Chirurg und Ethiker in Zürich, befasst sich monatlich mit einem medizinethischen oder aktuellen gesellschaftspolitischen Thema aus dem Bereich Gesundheit.