Am 10. September reist Kurienkardinal Marcello Semeraro von Rom in das kleine polnische Dorf Markowa im Vorland der Karpaten. Er wird hier – im Auftrag des Papstes – eine Familie seligsprechen, die in der Zeit der deutschen Besatzung eine jüdische Familie bei sich versteckte und 1944 deshalb von einer Nazi-Patrouille massakriert wurde.
Christian Feldmann
Sie kamen im Morgengrauen: Als der 24. März 1944 über dem Dorf Markowa im Südosten Polens heraufdämmerte, umstellte eine Patrouille der deutschen Besatzer das Haus von Józef und Wiktoria Ulma. Die deutschen Gendarmen und ein paar ukrainische Hilfspolizisten holten eine jüdische Familie heraus, die hier in den letzten beiden Jahren Zuflucht gefunden hatte. Mit Schüssen in den Hinterkopf töteten sie den fast 80-jährigen Kaufmann Chaim Goldman, seine Söhne, seine Töchter und seine Enkelin.
«Da, schaut nur zu», rief einer der Besatzer den herbeigeeilten Dorfbewohnern zu, «so sterben polnische Schweine, die Juden helfen!» Anschliessend richteten sie den Obstbauern und Imker Józef Ulma (44) und seine im siebten Monat schwangere Frau Wiktoria (32) hin.
Augenzeugen berichteten, der Kommandant der Polizeiaktion, Eilert Dieken, sei etwas verlegen vor den Leichen gestanden, während die Kinder des Ehepaars, die das Massaker mit angesehen hatten, weinten und panisch schrien. Dann wandte er sich an die umstehenden Dorfbewohner, sagte ihnen zynisch: «Ihr werdet jetzt wohl keine Probleme haben wollen?», und die Gendarmen erschossen die achtjährige Stanislawa Ulma, die siebenjährige Barbara, ihre Brüder Władysław (6), Franciszek (4) und Antoni (3), ein Kind nach dem anderen, und ganz zuletzt die zweijährige Maria. Danach begannen die deutschen Polizisten und ihre ukrainischen Helfer zu trinken und teilten sich die Schmuckstücke, die sie im Haus ihrer Opfer gefunden hatten.
Die Bibel, in der die Geschichte vom barmherzigen Samariter mit Unterstreichungen markiert war, hatten sie nicht entdeckt. Józef Ulma, ein vielseitig interessierter Landwirt und Obstbauer, der von seinen Mitbürgern oft um Rat gefragt wurde und die lokale Geschichte mit der Kamera dokumentierte, war praktizierender Katholik und in einem katholischen Jugendclub tätig.
Wie man inzwischen weiss, sind die Ulmas damals von ihren Mitbürgern im Dorf gedeckt, aber nach eineinhalb Jahren von einem Angehörigen der polnischen Hilfspolizei namens Włodzimierz Leś aus einem Nachbarort denunziert worden. Eine dort versteckte jüdische Familie hatte Leś ihren Besitz anvertraut; er fürchtete offenbar, diesen nach einem Ende der deutschen Besatzung und der Judenverfolgung zurückgeben zu müssen.
Der polnische Staat hat im Jahr 2016 im Dorf Markowa eine Gedenkstätte für die Familie Ulma errichtet, die gleichzeitig der Erinnerung an alle Polen dienen soll, die während des Zweiten Weltkriegs Juden gerettet haben.
Bei der Einweihung der Gedenkstätte legte Staatspräsident Andrzej Duda ein flammendes Bekenntnis zu Brüderlichkeit und Barmherzigkeit ab. Duda: «Jeder, der Hass unter Völkern und antisemitische Parolen verbreitet, der tritt das Grab der Familie Ulma mit Füssen. Kein aufrichtiger Rechtsstaat darf nationale Phobien und Fremdenhass tolerieren.»
Es waren und sind wenige kritische Stimmen, die von einer Instrumentalisierung der Märtyrerfamilie sprechen und kritisieren, dass zugunsten einer nationalen Legende – alle Polen seien tapfere Helden und Judenfreunde gewesen – die weniger schöne Seite der polnischen Zeitgeschichte ausgeblendet worden sei: Kollaboration mit den Besatzern, Verrat, Denunziation, Erpressung, antisemitische Attacken.
In der Tat haben allein im Vorkarpatenland nach Angaben von Historikern mindestens 1600 Polen an die 2900 Juden versteckt; rund 200 Polen haben das mit dem Leben bezahlt. Der Staat Israel hat bisher mehr als 7200 Polen für dieses Engagement ausgezeichnet und ihre Namen als «Gerechte unter den Völkern» in die Gedenkstätte Yad Vashem aufgenommen – so viele wie aus keiner anderen Nation.
Skeptiker weisen freilich darauf hin, dass sich nicht wenige freundliche Nachbarn ihre lebensgefährliche Hilfe gut hätten bezahlen lassen. Die Bewohner des Dorfes Jedwabne, die am 10. Juli 1941 alle ihre jüdischen Mitbürger, rund 300 Männer, Frauen, Kinder, in eine Scheune trieben und diese anzündeten, taten das aus eigenem Antrieb, ohne deutsche Anstifter. Wer heute in Polen Details über die Bluttat veröffentlicht, gilt schnell als Nestbeschmutzer.
Für die kirchlichen Behörden in Polen und Rom war bei der Entscheidung über eine Seligsprechung der Familie allein wichtig, ob die Ulmas als Märtyrer, also für ihren Glauben gestorben sind. Genau das bescheinigte ihnen Papst Franziskus bereits vor einigen Jahren, als er sie «ein Beispiel für die Treue zu Gott und seinen Geboten, für die Liebe zum Nächsten und für die Achtung vor der Menschenwürde» nannte.
Sieben der neun Seligsprechungskandidaten in Markowa sind Kinder – darunter das ungeborene Kind der umgebrachten Familienmutter. Damals im März 1944 wurde erzählt – die Berichte sind nicht einheitlich –, die im siebten Monat schwangere Wiktoria Ulma habe unter den Todesschüssen ihr Kind verloren. «Das Spannende ist», gab ein im Seligsprechungsprozess engagierter Priester zu bedenken, «dass man hier den tiefen Wunsch eines jeden Menschen nach dem Leben sieht, den Wunsch, auf die Welt zu kommen. Die vatikanische Kongregation hat dieses ungeborene, namenlose und ungetaufte Kind in den Prozess einbezogen.»