Der Bergbauer, Politiker, Richter und spätere Einsiedler, Asket und Mystiker Bruder Klaus wurde vor 75 Jahren heiliggesprochen. Er ist der Schutzpatron der Schweiz, dem am 25. September gedacht wird. Seine Brunnenvision gibt Einblick in seine Tiefe − ein Kommentar.
Werner T. Huber
Die Brunnenvision
«Bruder Klaus sieht während einer nächtlichen Gebetszeit viele arme und schwer arbeitende Menschen auf einem öffentlichen Platz. Er schaut ihnen dabei zu und wundert sich, warum sie so arm sind. Dann sieht er einen Tabernakel und steigt durch die offene Tür in ihn ein. Darin befindet sich eine Gemeindeküche, auf deren rechter Seite eine Treppe nach oben in einen weiteren Saal führt. Aber nur wenige Menschen gehen die Treppe hinauf, um den Saal zu sehen. In seiner Mitte fliessen aus einem Brunnenkasten Wein, Öl und Honig. Doch kaum einer nimmt davon Notiz und schöpft daraus. Alle sind zu sehr mit sich selbst und mit weltlichen Dingen beschäftigt» (Caspar Ambühl, Biograf, vor 1500).
Eine Vision ist immer auch ein Gleichnis, ein Bild. Um den Rahmen des Bildes besser verstehen zu können, müssen wir in der Zeit zurückblenden. In der mittelalterlichen Kirche steht der Tabernakel zwar vorne im Chor, aber auf der linken Seite, in die Mauer versenkt. Um das Türchen herum sind oft gotische Bauelemente in kleinerem Format angebracht, sodass der Tabernakel aussieht wie ein Häuschen. Daher kommt auch die Bezeichnung «Sakramentshäuschen».
Bruder Klaus erlebt intensiv den Kontrast zwischen draussen und drinnen. Auf einem grossen Platz, der die weite Welt bedeutet, sind die Menschen mit allerlei Dingen beschäftigt. Mittendrin steht jedoch ein schönes Haus, dem Aussehen nach sogar ein Palast. Bruder Klaus nennt das Haus «Tabernakel», das heiss das Haus, in dem das Allerheiligste wohnt, das Haus, in dem Gott wohnt.
Am 16. Oktober 1467 verliess Niklaus von Flüe Frau und Kinder, Haus und Bauernhof, er löste sich von all seiner Habe und all seinem Gehabe. Er wollte draussen in der Welt als freier Pilger umherziehen und die Wallfahrtsorte besuchen. Aber es kam alles völlig anders. Seine Berufung war eine andere. Die Richtung seines Weges änderte sich radikal, nicht nur geografisch, weil er wieder ins Obwaldnerland zurückkehrte. Der Weg nach draussen wurde umgewendet zum Weg nach innen. Gott wohnt im Innern der Menschen, im Herzen: Das Herz ist der Tabernakel. Das ist der Kern der Vision.
Brunnen, Honig … Unverkennbar erscheint nun auch eine Querverbindung zu einer Stelle im sogenannten «Pilgertraktat», wo der unbekannte Pilger in seiner eigenen Interpretation des Meditationsbildes von Bruder Klaus schreibt: «… er [Gott] ist ein Brunnen, aus dem alle Weisheit ausfliesst, diese wird dem mitgeteilt, der ihrer aus echter Liebe begehrt. Das ist die süsse Einfliessung des Heiligen Geistes, dadurch es uns ermöglicht wird, dass wir seine klare Gottheit ewig anschauen können.»
Bruder Klaus will den Fluss, hinauf bis zur Quelle, erforschen. Aber es versagt ihm die Kraft seiner Füsse. Er droht im Sumpf seiner eigenen Möglichkeiten zu versinken. Der Mensch ist nicht stark aus eigener Kraft (1 Sam 2,9; Ps 33,13–22; 147,10–11), er muss auf Gott vertrauen und sich von seiner Liebe tragen lassen, der Mensch ist auf die geschenkte Kraft und Weisheit Gottes angewiesen. Er muss seine Eigendynamik, sein eigenes Machtgehabe, alles Unwesentliche, ganz und gar loslassen. Nur so kann er sein Leben in wesentlicher Weise gewinnen, von Gott neu als Geschenk empfangen.
Der Mensch kann nicht selber Gott sein, vielmehr sollte er zuerst recht Mensch werden und der Bestimmung des Schöpfers entsprechen, er soll Kind Gottes werden und in seiner Nähe, in seiner liebenden Zuwendung leben. Aber seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden wollen die Menschen selber mächtig sein.
Alles im Leben der Menschen hat anscheinend seinen Preis, alles wird mit Zahlen gemessen, alles und jedes ist der Diktatur des Geldes unterworfen. Und so könnte der Kontrast nicht grösser sein zwischen draussen und drinnen, wenn man diesem eigendynamischen Treiben der Menschen einen Vers im Prophetenbuch Jesaja entgegenstellt: «Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser! Auch wer kein Geld hat, soll kommen. Kauft Getreide und esst, kommt und kauft ohne Geld, kauft Wein und Milch ohne Bezahlung!» (Jes 55,1; vgl. Joh 7,37).
In der Vision erscheint dieser Kontrast als Sinnspitze: Der von der Zahl geprägten Macht der Menschen setzt Gott seine masslose Liebe entgegen. Gegenüber der menschlichen Macht zeigt sich diese Liebe – die keinen Massstab kennt – in Jesus am Kreuz zunächst als ausweglose Ohnmacht (vgl. 1 Kor 1,22–28). Im Weg nach innen erweist sie sich aber als die allein rettende Macht, als einzige Quelle des Lebens.
Im 15. Jahrhundert ereignete sich der Übergang von der Naturalienwirtschaft zur Geldwirtschaft. Für viele brachte dies einen praktischen Nutzen, öffnete aber auch die Tore für den Missbrauch. Akademiker erkannten die neue Situation auf ihre Weise. Kaum hatten sie ein Studium in den Freien Künsten (artes liberales) abgeschlossen, versuchten sie im kirchlichen Bereich unterzukommen. Eine Pfründe sollte ursprünglich den Lebensunterhalt sichern. Das änderte sich. Nun setzte zunehmend eine Jagd nach Pfründen ein. Es konnten durchaus auch mehrere sein, an verschiedenen Orten, auch weit weg, das Geld war ja leichter zu transportieren als Naturalien. Diese «Pfründenjäger» im Kirchenwesen waren jedoch oft nicht Priester, sondern einfach nur Nutzniesser. Einige von ihnen reisten extra nach Rom und stellten sich in päpstliche Dienste – wie auch immer. Zurück brachten sie dann ein Pergament mit einem Bleisiegel, das ihnen eine bestimmte Pfründe zusichern sollte, die Inhaber der Vergaberechte wurden vorher nicht gefragt und so vor den Kopf gestossen. Ein solcher Pfründenjäger wurde bald auch «Kurtisan» genannt. Waren die Verantwortlichen ihm nicht zu Willen, setzte er alle möglichen Tricks ein, um sein Vorhaben durchzusetzen. Ein berüchtigtes Beispiel dafür war Nicolao Garriliati, der in Bern um 1480/81 für grosses Aufsehen sorgte. Das Pfründenwesen nahm Ausmasse und Auswüchse an, die dem Ansehen der Kirche massiv schadeten. Die inneren Werte wurden vernachlässigt, die Jagd nach dem Geld verhinderte die innere Einkehr, den Gang in den Brunnen. Ämter, die eigentlich der Verbreitung der inneren Werte – des Brunnens – dienen sollten, wurden ins Gegenteil pervertiert, sie wurden zum Geldeintreiben missbraucht.