Die Bistümer Basel und St. Gallen haben eine neue Konzeption für die Paar- und Familienseelsorge vorgelegt. Der emeritierte Freiburger Ethikprofessor und Kapuziner Adrian Holderegger erklärt im Interview, was sich damit verändert. 

Stephan Leimgruber

 

Adrian Holderegger, bisher traten zur Ehe alle anderen Familienmodelle in den Hintergrund oder kamen gar nicht in den Blick: Einelternfamilien, Patchworkfamilien und Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren. Ist das jetzt anders? 

In einer erstaunlichen Offenheit gesteht Papst Franziskus in seinem Schreiben Amoris laetitia (Die Freude der Liebe) ein, das er im Nachgang zu den beiden Ehe- und Familiensynoden von 2014 und 2015 verfasst hat, dass die kirchliche Theologie und Verkündigung oft durch eine übertriebene Idealisierung der Ehe gekennzeichnet gewesen seien. Er spricht von einem Stereotyp der Idealfamilie, das weder der heutigen Realität entspreche noch auf heutige pastorale und spirituelle Bedürfnisse antworte. Deshalb plädiert er für einen Perspektivenwechsel, eine geänderte Blickrichtung, die in erster Linie die reale Situation von verschiedenen Familienformen, das unterschiedliche Gelingen von Partnerschaften, aber auch deren Schwierigkeiten im Zusammenleben ernst nimmt.  

 

Wie kam er zu dieser Haltung? 

Franziskus, der sehr vertraut mit den vielen Problemen des familialen Zusammenlebens in Lateinamerika ist, misstraut der herkömmlichen theologischen deduktiven Methode, die aus allgemeinen Wahrheiten weitreichende Schlussfolgerungen für jede Einzelsituation ableitet. Angesichts der komplexen Situationen versagen schematische Antworten und idealisierte Sicherheiten. Stattdessen gilt es, im wohlwollenden Hinhören zuträgliche Lösungen zu finden, die dem Wohlergehen der Menschen dienen.  

 

Geschiedene Personen klammerte man bisher von der Seelsorge aus. Daraus resultierte eine sträfliche Vernachlässigung jener Menschen. 

In der Tat folgte das traditionelle pastorale Handeln einer Logik der Ausgrenzung, denn das Leben in einer zivilen Zweitehe wurde als fortdauernder Zustand einer objektiv schweren Schuld angesehen und dementsprechend mit Sanktionen belegt. Papst Franziskus verfolgt demgegenüber eine andere Logik, nämlich diejenige der Integration. Gemäss seinem Perspektivenwechsel gilt es zunächst einmal, unvoreingenommen die menschliche Situation zur Kenntnis zu nehmen, und dann sei es «nicht mehr möglich zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten irregulären Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden». In diesem Punkt setzt sich Papst Franziskus eindeutig von seinen beiden päpstlichen Vorgängern ab. Er plädiert für eine pastorale Sichtweise, die bei aller klugen Unterscheidung unterschiedliche Lösungen für den Umgang mit Geschiedenen und Wiederverheirateten zulässt. Diese vorsichtige Erweiterung der traditionellen Ehetheologie hat heftige Kontroversen besonders im traditionsbewussten Milieu hervorgerufen – wie wir uns erinnern.  

 

Heute gibt die Kirche gleichgeschlechtlichen Paaren keinen Segen. Ist eine Neubewertung der Homosexualität angezeigt? 

Die kirchliche Bewertung der Sexualität war vorrangig bestimmt von der augustinischen Bewertung der Sexualität, wonach Sexualität – nach dem Fall im Paradies – grundsätzlich im Zeichen der Sünde gesehen werden muss und daher der Rechtfertigung bedarf. Erst in der Ehe wird dieses Defizit in gewisser Weise kompensiert, durch das Sakrament, Treue und Nachkommenschaft. Kaum beachtet verlässt Papst Franziskus in seinem postsynodalen Schreiben diese Sichtweise und macht sich die eher unbekümmerte, bejahende Sichtweise des Thomas von Aquin zu eigen: seine Passionslehre. Danach gehört die Sexualität zu den menschlichen Leidenschaften, die als Gefühlsregungen weder gut noch schlecht sind, aber eine positive Schöpfungsrealität darstellen. Die moralische Bewertung erfolgt über die Grundhaltung und die Intention, die darin zum Ausdruck kommen. Die Ausdrucksform sexuellen Handelns ist daher nicht eo ipso schlecht und sündig, sondern erfährt ihre moralische Qualität erst durch die Grundhaltungen, die im Einzelnen strittig sein mögen.  

 

Bei diesen Kriterien liegt doch das Problem. 

Wenn man diese Weichenstellung mitvollzieht, eröffnen sich neue Zugänge, Sexualität in ihrer Vielgestaltigkeit – nicht bloss in der Form der Homosexualität – wahrzunehmen. Die ganze Queer-Diskussion macht deutlich, dass wir in der Klärung dessen, was Sexualität und Geschlechtlichkeit sind und bedeuten, vielfach nur bruchstückhaftes Wissen haben. Derselbe Thomas von Aquin, von dem schon die Rede war, hat einmal gesagt: Jede theologische Erkenntnis beginnt mit der Wahrnehmung dessen, was ist, was uns Erfahrung und Wissenschaft sagen. Insofern steht nicht bloss eine Neubewertung der Homosexualität an, sondern eine Neubewertung der Sexualität überhaupt. 

 

Die neue pastorale Orientierung der beiden Diözesen will nicht mit Verurteilungen weitermachen, sondern achtsam und vorerst ohne Wertung einfach wahrnehmen. 

Die beiden Diözesen St. Gallen und Basel übernehmen explizit den Stil- und Perspektivenwechsel, der mit dem päpstlichen Schreiben Amoris laetitia eingeleitet wurde. Sie verstehen ihre pastorale Orientierung als einen ersten Schritt hin zu einer erneuerten Ehe- und Familienpastoral, in deren Zentrum nicht fertige, idealisierte Konzepte stehen, sondern die Grundhaltung des lernenden Hinsehens, der sorgsamen Begleitung und der hilfreichen Integrierung in das gemeindliche Leben steht. Es wird der Anstoss zu einer Lernbewegung der kirchlich Verantwortlichen gegeben, die konkrete Formen – in der Begleitung und in der Liturgie – erst noch finden soll.  

 

Mit einer alttestamentlichen Reverenz zu Mose wird die neue Sicht illustriert. Mose musste am Dornbusch die Schuhe ausziehen, um mit Gott zu sprechen bzw. um heiligen Boden zu betreten. Können Sie dieses biblisch abgestützte neue Konzept des Betretens von heiligem Boden erläutern? 

Diese biblische Metapher aus Exodus 3,5 – die von Papst Franziskus ins Spiel gebracht wurde – hat eine zweifache Stossrichtung. Mit der erneuerten Pastoral bewegen wir uns auf heiligem Boden, insofern wir all den ernsthaft gelebten familialen und partnerschaftlichen Formen mit Respekt, Achtsamkeit und Wertschätzung zu begegnen haben. Sie sind heiliger Boden, der uns auffordert, die Schuhe des Vorurteils, des Verurteilens und des Besserwissens abzulegen. Zum anderen will damit auch gesagt sein, dass Paar- und Familienbeziehungen in besonderer Weise Orte sind, wo Fragen nach Sinn, Annahme und Liebe, Dunkelheit und Glück besonders intensiv aufbrechen mögen. Sie können ein besonderer Raum für Spiritualität und Religion sein. So wie Moses – um im Bild zu bleiben – vor dem brennenden Dornbusch einen nahen und distanzierten Gott erfuhr, so bleibt es eine offene Frage, ob hier ‹heilige Momente› erlebt werden können. Auf jeden Fall gilt aufgrund aller Erfahrung: Diese wohl wichtigsten Beziehungen des Menschen sind ein «Biotop», wo Bezüge zu Spiritualität und Religion in herausragender Weise gegeben sind. 

 

Damit sind die Seelsorgerinnen und Seelsorger stark herausgefordert, gerade was die neuen vielfältigen Formen des Zusammenlebens anbelangt. 

In der Tat: Das Bild vom «Heiligen Boden» ist eine übergreifende Klammer, die sowohl weit verstandene, ernsthafte Paar- und Familienformen (zum Beispiel gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen, Patchworkfamilien, Alleinerziehende) als auch die herkömmliche Zweigenerationenfamilie und die sakramental geschlossene Ehe umfasst. Doch es geht der pastoralen Orientierung nicht um die Heiligsprechung aller Formen oder gar um deren moralische und kirchliche Gutheissung, sondern aus seelsorglicher Sicht um eine wertschätzende Anerkennung, die nicht zum Ausschluss, sondern zur Integration führen soll. Eine grosse Herausforderung an pastoral Verantwortliche, wenn nicht gar für etliche eine Überforderung. 

 

Läutet die kopernikanisch gewendete Seelsorge das Ende der Familie als massgebliche Form des Zusammenlebens ein? Ist jetzt alles auf einer Linie als gleichwertig anzuschauen?  

Indem man die verschiedenen Partnerschafts- und Familienformen unserer heutigen Gesellschaft anerkennend und wertschätzend in die pastorale Praxis miteinbezieht, schliesst dies nicht aus, dass der Sakramentalität der Ehe eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie die Orientierung betont. Damit ist allerdings die normative Frage nicht gelöst, wie andere Lebensformen, zum Beispiel nicht eheliche Paarbeziehungen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Adoptivelternschaften, ethisch und theologisch zu beurteilen sind. Hierzu gibt weder das Lehramtsschreiben noch die Orientierung eine Auskunft. Das heisst: Auch im normativen Bereich braucht es einen entschiedenen Stilwechsel, eine angemessene Sprache und eine nachvollziehbare Argumentation, ansonsten bleibt der neue pastorale Impuls ein Torso. Hier zeigt sich ein ungelöstes Problem der kirchlichen Lehre, dass ein geregeltes Verfahren fehlt, wie einmal fixierte Positionen einvernehmlich und verbindlich korrigiert und erweitert werden können. Vielleicht ist die Hoffnung nicht unberechtigt, dass die angesprochenen Grundhaltungen zu einer Umkehrbewegung im normativen Bereich führen werden. 

 

Neu gewinnt die Spiritualität im Leben von Paaren und Familien an Bedeutung. Sie lassen ihr Leben auch unabhängig von der Kirche von religiösen Impulsen leiten. Muss hier die Kirche umlernen? 

Man darf sich hier keinen Illusionen hingeben: Neuere religionssoziologische Forschungen zeigen, dass die zunehmende Säkularisierung und die zunehmende Distanz zur Kirche nicht zu einer Kompensation im Bereich der Spiritualität im Sinne einer ungebundenen religiösen Befindlichkeit und Praxis geführt haben. Es gibt eine zunehmende religiös-spirituelle Distanziertheit. Aber nach wie vor stellen sich viele in existenziellen Situationen der Paar- und Familienbeziehung religiös-spirituelle Fragen, etwa: Wie kann ich dem anderen vertrauen? Was lässt mich hoffen, dass die Beziehung in die Zukunft hält? Was bedeutet Vergebung? Die Antwort-Angebote sind vielfältig. Hier, will mir scheinen, müssen in Theologie und Verkündigung literarische Formen, poetische Stilmittel und sensible Tonlagen gefunden werden, in denen solche Bedürfnisse zur Sprache gebracht werden können.