Das anthropologische Institut Philanthropos bei Fribourg feiert 20 Jahre ganzheitliche Lebensschule. Es könnte das letzte Jubiläum sein.
Kathrin Benz
Aus saftig grünen Wäldern erhebt sich Bürglen, gleich oberhalb der Kantonshauptstadt. Dort steht das ehemalige Pensionat Salve Regina der Baldegger Schwestern, das heute dem Bistum gehört. Seit 20 Jahren können junge Studierende hier ein Jahr lang die grossen philosophischen Sinnfragen in einem gemeinschaftlichen spirituellen Alltag konkret reflektieren und erfahren. Das Institut heisst Europäisches Institut für anthropologische Studien Philanthropos und ist an die Universität Fribourg gekoppelt. Die Kreditpunkte können für einen Bachelor in Theologie verwertet werden. Das Jahr kostet 15 000 Franken, Kost und Logis inbegriffen. Seit der Gründung vor 20 Jahren durchliefen 750 junge Menschen Philanthropos. Laut der stellvertretenden Direktorin Douve Frieden-Spicher haben sich «sieben bis zehn Prozent der Ehemaligen für ein religiöses Leben entschieden. Mehrere Dutzend sind heute Priester oder Seminaristen. Und viele Ehemalige arbeiten heute im Dienst der Kirche oder kirchlicher Werke.»
Der Name Philanthropos kommt aus dem Griechischen und bedeutet: der den Menschen liebt. Die Anthropologie hingegen betrifft irgendwie alles. Das Wort geht zurück auf den deutschen Philosophen, Arzt und Theologen Magnus Hundt (1449–1519) und dessen Werk «Anthropologie über Würde, Wesen und Eigenschaften des Menschen, über die Elemente, Teile und Glieder des menschlichen Körpers».
Und in der Tat geht es in Bürglen, oder etwas schicker auf Französisch Notre Dame de Bourguillon, denn auch um eine ganzheitliche Erfahrung. Ohne Handy. Ohne Computer. Um die Aufmerksamkeit nicht zu zersplittern. Man schreibt noch auf Papier, man isst und spricht noch zusammen. Man geht täglich zum Gottesdienst, man spielt Theater, singt, reflektiert und diskutiert miteinander. Und man arbeitet jede Woche einmal im Freien. Der Ansatz ist katholisch weltoffen, interdisziplinär.
Vom Anarchisten zum Vatikanberater
In unserer heutigen Zeit werde der Körper tendenziell als Accessoire empfunden, als wäre er vom Geist abgekoppelt. Die jungen Millennials sollten daher wieder lernen, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Körper zu arbeiten, Glauben und Vernunft zu integrieren und den Geist für die Welt zu öffnen. So sieht es der Leiter des Instituts Fabrice Hadjadj.
Diesen Namen sollte man sich merken. Der Franzose Fabrice Hadjadj, Jahrgang 1971, gehört zu den intellektuellen Schwergewichten Europas und ist gern gesehener Gast im französischen Fernsehen. Seine Bücher gibt es in vielen Sprachen, ausser auf Deutsch. Er selbst nennt sich «gebürtiger Jude mit einem arabischen Namen aus einem militant maoistischen Elternhaus». Er war lange Zeit Atheist und Anarchist, studierte in Paris Politikwissenschaften und Philosophie und leitete ein nihilistisches Kollektiv, für das er mehrere Bücher schrieb.
Dann kam die plötzliche Wende. Als sein Vater schwer erkrankt, tritt er im Quartier Latin in eine Kirche ein und betet vor einer Madonnenstatue. 1998 konvertiert er zum Katholizismus. Im gleichen Jahr heiratet er die Schauspielerin Siffraine Michel und hat mir ihr heute zehn Kinder.
Für seine Bücher, Artikel und Theaterstücke mit Titeln wie «Le Paradis à la porte: Essai sur une joie qui dérange» (Das Paradies vor der Haustür: Essay über eine unbequeme Freude) oder «Résurrection, mode d’emploi» (Gebrauchsanweisung für die Auferstehung) wurde er mit Preisen überhäuft, darunter der Kardinal-Lustiger-Preis der Académie Française. Er ist Mitglied des päpstlichen Rats für Laien und lebt in der Nähe von Freiburg.
Kultivierte Offenheit
Als Hadjadj 2012 Direktor von Philanthropos wurde, lag das Institut noch in den Händen der charismatischen Bruderschaft Eucharistein des umstrittenen Walliser Priesters Nicolas Buttet, der mittlerweile – auch auf Druck der Kirche – ausgestiegen ist. Die Bruderschaft stand im Verruf, sektiererisch zu sein. Aber genau dies will Hadjadj vermeiden. In einem Interview mit der Freiburger Zeitung Liberté sagte er: «Junge Gläubige sind oft zwischen ihrem intellektuellen und spirituellen Leben gespalten. Manche haben ein fideistisches Verhältnis zum Glauben. Die Herausforderung besteht darin, dass unsere Studierenden niemals zu Fundamentalisten werden, sondern einen kultivierten und offenen Glauben haben und der zeitgenössischen Welt gegenüber aufgeschlossen sind.»
2019 kam es zum Bruch mit Buttet. Philanthropos ging in eine Stiftung des Bistums Lausanne, Genf und Fribourg über. Gemeinsam mit dem Bischof fand eine Neuorientierung statt, verschiedene religiöse Orden und Laien wurden einbezogen und der Verwaltungsrat wurde neu besetzt.
Zu viel Wie statt Warum
Douve Frieden-Spicher erklärt: «Wir haben hier keine Elite von Privilegierten und stehen keiner bestimmten Gruppe nahe. Wir haben eine mutige Positionierung ohne Etikette, was die Suche nach Finanzmitteln nicht gerade erleichtert.» In der Tat sieht der finanzielle Horizont trotz viel Freiwilligenarbeit düster aus, es fehlt an Gönnerinnen und Gönnern.
Es wäre schade, wenn die existenzielle Erfahrung von Freiburg aufgeben müsste. «Allzu oft werden junge Menschen aufgefordert, sich zu spezialisieren, sich sehr früh wie Zahnräder in eine Maschine einzufügen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ohne dass man sie anregt, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Man beschäftigt sich so sehr mit dem ‹Wie› und so wenig mit dem ‹Warum›. Man wird Ingenieurin, Händler, Anwalt, Krankenschwester usw., aber man weiss kaum, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.» Diese Passage auf der Homepage von Philanthropos lässt erahnen, dass es sich vermutlich lohnt, innezuhalten und nachzudenken, bevor man sich den vielen Herausforderungen des Alltags stellt.