Die von Robert Maillart 1929 entworfene und 1930 fertiggestellte Stahlbetonbrücke wird heute an den technischen Hochschulen der ganzen Welt als Lehrobjekt gezeigt. Sie ist ein hervorragendes Beispiel für eine wirtschaftliche und gleichzeitig architektonisch elegante Lösung. Seit 2017 befindet sich die Brücke auf der Tentativliste des UNESCO-Welterbes. Ein Augenschein.   

von Jakob Hertach 

Die grosse Tafel «World Monument Salginatobel Bridge» in Schiers im Prättigau ist schon von Weitem sichtbar und macht neugierig. Eine Bergstrasse mit wenigen Ausweichstellen führt zur Brücke über die tiefe Salginaschlucht. Es ist eine in Weiss getünchte Stahlbetonbrücke, die elegant in 90 Metern Höhe das Tobel überquert und Schiers mit dem Weiler Schuders verbindet.  

132 Meter lang ist das Werk des Bauingenieurs Robert Maillart. Vor dem Bau der Brücke 1929 war der Zugang nach Schuders beschwerlich. Nun also eine echte Erleichterung, das zeigt folgender Bericht der Prättigauer Zeitung aus dem Jahr 1915. 

«Schuders liegt auf einem durch Schluchten und Terrainfalten verrammelten Berg und wird in zwei bis dreieinhalb Stunden erreicht. Der Weg ist rau und beschwerlich, aber auch sehr abwechslungsreich. Es ist schon eine kleine Bergtour dort hinauf. Lebensmittel und anderes Material mussten mit Saumtieren mühsam nach Schuders befördert werden. Oft kamen noch Unwetter und Überschwemmungen dazu.»  

1928 wurde der Vertrag für den Bau einer Alp- und Güterstrasse unterzeichnet und die Stelle bestimmt, an der die Brücke gebaut werden sollte. Die kantonale Bauverwaltung habe von den 19 eingereichten Projekten das billigste ausgewählt – 180 000 Franken –, «weil man der ungewohnt schlanken Konstruktion nicht recht traute», steht im Prospekt. Schuders wird erst seit 1975 mit Elektrizität versorgt. 

Robert Maillart, dem genialen Bauingenieur, war es gelungen, die wirtschaftlichste Brückenlösung zu finden, indem er den sehr teuren Stahlbeton sparsam eingesetzt hat. Das «billigste» Projekt fand bald das Interesse der Fachwelt. Die hervorragende Ingenieurleistung und die moderne Brücke übten eine magische Anziehungskraft auf die Fachleute aus, und sie gelangte auf die Liste der bekanntesten Ingenieurschöpfungen der damaligen Zeit. Ihr wurde von der grössten amerikanischen Ingenieurvereinigung ASCE die gleiche Bedeutung verliehen wie der Eiffelturm in Paris, der Panamakanal, die New Yorker Freiheitsstatue und andere mehr.  

Was machte Maillart anders?
In der vorindustriellen Zeit nutzten die Baumeister Systemüberlagerungen. Sie haben nebeneinander oder übereinander verschiedene statische Systeme eingesetzt. Ein Beispiel: Bei der Rabiusbrücke von Versam (gebaut 1928) wurden ein Bogen, ein Fachwerk, ein Hängewerk und ein Sprengwerk eingesetzt. Bekannt ist die Rheinbrücke von Ulrich Grubenmann in Schaffhausen. Später wurde die Konstruktionsart immer mehr auf einfache Formen reduziert, dank moderner Berechnungsformen. Maillart ging einen Schritt weiter: Er entwickelte eine sinnvolle Konstruktion, die auf das Nötigste beschränkte war. Damit schuf er einen Gegensatz zur damals üblichen Lehrmeinung und Baupraxis. Seine Entwicklung entfaltete sich erst 50 Jahre später gänzlich.  

Gefährliches Lehrgerüst
Für den Bau massiver Brücken in Stein, Mauerwerk, Beton und Eisenbeton brauchte es ein provisorisches Lehrgerüst mit Schalung, auf die das Mauerwerk aufgesetzt oder der Beton gegossen werden konnte. Das Lehrgerüst gibt dem Bauwerk die gewünschte Form. Das Gratisholz, so eine Auflage des Kantons, musste von der Gemeinde Schiers gratis zur Verfügung gestellt werden. Im September 1929 begannen sechs Arbeiter mit dem Bau des Lehrgerüstes, und zwar auf beiden Seiten des Tobels. Am 1. Mai 1930 war dieses fertig. Alles stimmte entsprechend den Berechnungen. Mitte Mai begannen die Arbeiter mit dem Guss der Bogenplatte, eine heikle Bauphase. An beiden Brückenköpfen wurden Betonmischplätze eingerichtet, wo der Beton von Hand zubereitet wurde. Der fertige Beton wurde ebenfalls von Hand auf das Transportgerüst gekarrt. Zwei Männer brachten während zwei Tagen den Beton mit Stampfern zwischen die Armierungseisen. Nach 28 Stunden Arbeit wurden von beiden Seiten die Bogenviertel erreicht. Der wichtigste Teil des Brückenbaus war vollendet und das Lehrgerüst abgesenkt. 

Der Wanderweg nach Schuders
Auf der Internetseite der Salginatobelbrücke wird auf den historischen und kulturellen Wanderweg aufmerksam gemacht. Er ist bereits am Bahnhof Schiers ausgeschildert. Der eigentliche Rundpfad startet bei der Chalchofenhütte im Schraubbachtobel und führt in rund einer Stunde um das Weltmonument und zurück. Der Blick von der Brücke ist schlicht grandios. Über 90 Meter schweift der Blick in die Tiefe, bevor man weit unten den Bach entdeckt. Wer mag, wagt einen Abstecher unter die Brücke, der Hohlkasten ist teilweise zugänglich und sehr beeindruckend. 100 Meter nach der Brücke führt der Weg zurück ins Tal.