Vom Tod bis zur Beerdigung vergehen im Tessin nur wenige Tage. Und Trauer ist noch immer eine Sache der Gemeinschaft. Aber die Zeiten ändern sich auch in der Südschweiz, wie die Casa Funeraria in Bellinzona vor Augen führt.

Kathrin Benz

 

Am Ende ging alles sehr schnell. Nonna Rosita starb in einem Altersheim in Bellinzona im Beisein der Tochter und des Sohnes, nachdem die Krankenschwester gemeint hatte, es sei wohl besser, wenn die Verwandten an jenem Abend nicht nach Hause gehen würden. Dass die beiden überhaupt von der Arbeit freibekommen hatten, um sich abwechselnd am Sterbebett der Mutter aufzuhalten, war keine Selbstverständlichkeit. Da gingen eben Überstunden und Ferientage drauf. Als Rosita ihren letzten Atemzug tat, gab es Tränen, man rief die Verwandten an, und das Altersheim kontaktierte den Bestatter. Es war Montagabend. Spätestens am Donnerstag würde Rosita dem Krematorium übergeben sein. Sie wollte keine Erdbestattung, was aber am Zeitplan nichts änderte. Es geht im Tessin nur selten länger als drei oder vier Tage, bis der endgültige Abschied vollzogen ist. Nur wenn jemand von weit her anreisen muss, kann sich alles verzögern.

 

Die Nachbarn und Freunde wussten seit Wochen, dass es mit Rosita zu Ende ging. Man blätterte jeden Tag die Zeitung von hinten auf, um auf der letzten Seite die Todesanzeigen zu lesen. Am Mittwochmorgen stand es dann dort Schwarz auf Weiss, mit Foto, und nun wussten alle, die es noch nicht per ‹Buschtelefon› erfahren hatten, dass die liebe Rosita gestorben war, ab wann sie an welchem Ort aufgebahrt wurde und besucht werden konnte und dass die Beerdigung am Donnerstagnachmittag stattfinden werde.

Besonders fromm war in der Familie niemand, aber eine Messe musste sein, schlicht und ohne Schnörkel. Wer die Familie kannte und nicht arbeitete, würde kommen. Während des Gottesdienstes würden einige wohl draussen warten, weil man nichts von Predigten und Weihwasser hielt. Der Pfarrer würde nur kurz über Rosita sprechen, die er ein paar Mal im Altersheim besucht hatte, und vielleicht würde eine Enkelin am Ende der Feier etwas emotional und hastig einen lieben Brief an die Nonna vorlesen und dann ein paar ehrliche Tränen verdrücken. Früher hatte es so etwas nicht gegeben. Nach dem letzten Lied, in dem man die Engel bittet, die Verstorbene ins Paradies zu geleiten, und in dem man die Vergin dolcissima, die zärtliche Gottesmutter, um Trost anruft, würde man in die Sonne hinaustreten und geduldig anstehen, um der Familie zu kondolieren. Der Reihe nach würden Nachbarn, Freunde und Bekannte die Familienmitglieder umarmen und Hände schütteln, bevor alle nach Hause gehen würden. Keine vier Tage nach dem Tod von Rosita war alles vorbei. Ausser natürlich die Bürokratie und das Gezänk um das Erbe, das den Verwandten nun bevorstanden, aber das ist ein anderes Kapitel.

 

Es gibt im Tessin einen ganz speziellen und ungewöhnlich schönen Ort, um diesen Abschied zu vollziehen. Das Gebäude steht in Bellinzona, und es sind besonders drei Räume, die den Unterschied machen: Auf Italienisch heissen sie camera ardente, die brennende Kammer, weil im Altertum rund um einen Leichnam Fackeln angezündet wurden. Der Name suggeriert Licht, aber auch glühende Emotionen oder brennende Herzen. Die camere ardenti stehen in Altersheimen, im Spital oder neben Kirchen, aber sie sind meist unpersönlich und oft eng und dunkel. Die Angehörigen wachen dort zwei Tage lang in ungemütlichen Räumen beim Sarg, um die Kondolierenden zu empfangen.

 

Zwei Bestattungsunternehmer wollten dieser Situation Abhilfe schaffen. Sie realisierten vor ein paar Jahren ein Projekt, mit dem sie den Trauernden ein Ambiente zur Verfügung stellen wollten, das ihnen durch heimelige Schönheit wenigstens ein bisschen Trost spenden und die zwei Tage, in denen ständig Menschen zum Händeschütteln kommen, etwas erleichtern könnte. Mit ihrem Gebäude haben Luca Andreetta und Dante Pesciallo den Nerv der

Zeit getroffen, denn ihr ökumenisches Zentrum Casa Funeraria Bellinzona (Cafube) wird von der Bevölkerung sehr geschätzt.

 

Das Gebäude mit seinen insgesamt rund 3000 Quadratmetern Nutzfläche auf vier Stockwerken wurde 2016 von dem jungen argentinischen Architekten Juan Campopiano gebaut, der in der Architekturakademie in Mendrisio bei Mario Botta studiert hatte. Es besticht durch seine schlichte, streng geometrische und lichtvolle Ästhetik. Die Aussenschale besteht aus 39 Pfeilern, die wie Kerzen gen Himmel zeigen. Im Erdgeschoss liegt der grosse Raum für die Abschiedsfeiern. Im ersten Stock können sich die Angehörigen den Sarg, die Urne und den Schmuck aussuchen, darüber befinden sich die drei Kammern für die Verstorbenen. Sie sind hell, der Sarg steht etwas verborgen hinter einer dreieckigen Säule. Beim Eintreten sieht man als Erstes die gemütlichen Polstermöbel, die Blumen, das warme Licht, die Menschen. Vielleicht ertönt leise Musik. Es ist heimelig, trotz der Tränen. Auf diesem Stockwerk gibt es auch eine Cafeteria. Und ganz oben sind die Büros untergebracht. Durch das ganze Gebäude ziehen sich an den hellen Wänden die etwas freimaurerisch anmutenden, in Rot getränkten Gemälde des Tessiner Künstlers Franco Ghiringhelli, auf denen der Sonnenwagen Apollos zu sehen ist, dessen Pferde die Seelen ins Jenseits tragen. Vielen gefallen diese Bilder, da sie einen Farbtupfer in das schlichte naturfarbene Ambiente bringen.

 

2020 erhielt die Casa Funeraria den internationalen Publikumspreis des Architekturwettbewerbs Architizer in der Kategorie Religious Buildings & Memorials. Rund 300 Bestattungen werden hier in einem Jahr durchgeführt. Laut Andreetta und Pesciallo sind von den religiösen Riten an ihrem Institut noch weit über 90 Prozent katholisch, aber es gebe auch Reformierte sowie Menschen anderer Religionen. Weit über 90 Prozent der Tessinerinnen und Tessiner lassen sich kremieren, und auch im Tessin wächst der Trend, die Asche der Verstorbenen nicht mehr auf dem Friedhof beizusetzen, sondern irgendwo zu verstreuen. Dies sei, so die beiden Bestattungsunternehmer, gesetzlich erlaubt, sofern man von den Grundstücksinhabern die Bewilligung erhalte.