Am Anfang war das Fernweh: Nächste Woche beginnen in vielen Kantonen die Sommerferien. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass Religion und Reisen gemeinsame Wurzeln haben. Das Neue Testament kann über weite Strecken als Reisebericht gelesen werden.
Christian Cebulj
Kinder, Jugendliche und Erwachsene warten nach einem anstrengenden Schuljahr ungeduldig auf die lang ersehnte Zeit für Reisen, Erholung und Tapetenwechsel. Ein starkes Gefühl in diesen Tagen ist das Fernweh, das übrigens kein Phänomen unserer Zeit ist, sondern so alt wie die Menschheit. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass Religion und Reisen gemeinsame Wurzeln haben. Denn schon in den ältesten antiken Reisegeschichten der europäischen Kultur schreiben Menschen sich das Fernweh von der Seele. Dabei dienen Texte wie das Gilgamesch-Epos, die Odyssee oder die Aeneis weniger der Unterhaltung als vielmehr der Sinn- und Identitätsstiftung. Sie zielen darauf ab, die Sehnsucht nach dem Paradies und die Flüchtigkeit des Lebens zu beschreiben.
Der Exeget Knut Backhaus schreibt, dass auch das Neue Testament über weite Strecken als «Reiseliteratur» gelesen werden könne: Das Markusevangelium erzählt die Geschichte des Wanderpredigers Jesus als die einer Reise von Galiläa nach Jerusalem. Paulus ist nach der Apostelgeschichte permanent auf Missionsreisen unterwegs, um in Kleinasien und Griechenland christliche Gemeinden zu gründen. Wer sich die Geschichte des Tourismus ansieht, stellt fest, dass die Wallfahrten und Pilgerreisen des Mittelalters die ersten organisierten Gruppenreisen gewesen sein dürften. Sie hatten den wichtigen Effekt, dass Religion und Glaube nicht nur geistig und spirituell, sondern auch zeitlich, räumlich und materiell erfahrbar werden. Das Reisen ermöglicht damals wie heute Momente des Ausseralltäglichen, wodurch Religion und Tourismus auf eine besondere Weise miteinander verbunden sind.
Neben dem spirituellen Tourismus, der Phänomene wie Klosterretreats, Bergexerzitien und die zahlreichen Formen des Pilgerns umfasst, spielt heute das weite Feld des Kulturtourismus eine wichtige Rolle: Kirchenräume verzeichnen gerade auch ausserhalb der Gottesdienste ein steigendes touristisches Interesse. Die Besichtigung von Kathedralen und Klöstern rangiert ganz oben auf der Beliebtheitsskala kultureller Urlaubsaktivitäten. Unter den zehn beliebtesten Reisezielen Europas sind fünf Kirchen: die Sagrada Familia in Barcelona, der Petersdom in Rom, der Dom zu Mailand, der Kölner Dom und Notre Dame de Paris. Durch den Tourismus erfahren Glaube und Religion einerseits neue Relevanz. Andererseits müssen Pfarreien und Kirchgemeinden immer wieder neu einüben, wie sie mit dem Tourismus als einem fremden Kommunikationsfeld umgehen. Der frühere Zürcher Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist erzählt: «Am Sonntag zu meinem Gottesdienst kommen 50. Aber wenn wir am Montag die Türen für die Reisegruppen öffnen, kommen 300.» Und er ergänzt sofort, dass er das nicht bewerte, es seien doch alles Menschen!
Vielleicht führt unsere touristische Neugier in der Ferienzeit zu der Erkenntnis, dass Religion und Reisen zwei wesentliche Aspekte gemeinsam haben: Sie sind Bildung und Begegnung. Dabei muss ich gar nicht wie Gilgamesch bis ans Ende der Welt reisen, es genügt schon eine Fahrt ins Engadin: Wer dort das wunderbare Kloster St. Johann in Müstair mit seinen weltberühmten frühmittelalterlichen Fresken besucht, erlebt, wie sehr Reisen bildet. Da jetzt im Sommer noch viele andere Gäste das UNESCO-Welterbe-Kloster besuchen, bedeutet Reisen auch Begegnung. Wir treffen auf Menschen verschiedener Nationen, Sprachen und Religionen, die eines miteinander verbindet: Am Anfang war das Fernweh.