Ein Fahrausweis ist kein Ziel mehr, aus ökologischen Gründen wird wenig oder kein Fleisch gegessen und ein guter Monatslohn erscheint nicht als Mass aller Dinge. Die Maturanden und Neustudenten orientieren sich an neuen Werten. Christian Cebulj, Rektor der Theologischen Hochschule Chur, erkennt darin neues Potenzial für ein Theologiestudium.

von Anton Ladner

Christian Cebulj, die Corona-Pandemie hat jungen Erwachsenen einen gewaltigen Dämpfer versetzt.  

Ja, sie gelten ja heute nicht umsonst als die Helden der Pandemie, weil sie wie andere Altersgruppen stark unter der Isolation gelitten, aber maximal viel Verständnis für die Freiheitsbeschränkungen aufgebracht haben. An unserer Hochschule haben wir eine ambivalente Erfahrung gemacht: Der Vorlesungsbetrieb wurde gleich zu Beginn der Pandemie mit viel Aufwand auf Online-Unterricht umgestellt. Für manche Studierende war es belastend, dass sie wochenlang alleine im Homeoffice studieren mussten. Sie haben das gemeinsame Lehren und Lernen im Hörsaal und die Small Talks in den Pausen vermisst. Andere wiederum wussten die Vorteile des digitalen Lernens zu schätzen, weil sie dadurch zum Beispiel Studium, Familie und Kinderbetreuung besser unter einen Hut bringen konnten. Sie empfanden es zudem als Vorteil, dass sie sich die täglichen Fahrzeiten an die Hochschule sparen konnten.   

Die Beschränkung des Ausbildungsalltags und des sozialen Lebens führte zu vielen Sinnfragen.  

Nach meiner Wahrnehmung hat die Corona-Pandemie wie ein Katalysator gewirkt: Positive wie negative Entwicklungen, die es vorher schon gab, wurden beschleunigt. Das gilt gerade auch im Blick auf Sinn- und Identitätsfragen. Es war zu allen Zeiten eine Stärke des christlichen Glaubens, dass er Menschen in Krisenzeiten eine vernunftbasierte Hoffnung anbieten konnte. Die Corona-Zeit stellte die Theologie nun vor die spannende Herausforderung, eine neue Theologie der Hoffnung zu treiben, die keine billige Jenseitsvertröstung verkündet, sondern eine Theologie in Echtzeit anbietet, also im Hier und Jetzt der Krisenbewältigung dient.   

Mit dem Ukraine-Krieg gerät das Wirtschaftswachstum erneut ins Stocken und die Inflation schiesst in die Höhe. Können Sie nachvollziehen, dass für viele junge Erwachsene die Zukunft nicht mehr rosig erscheint? 

Das kann ich verstehen und beobachte auch Tendenzen des ängstlichen Rückzugs ins Private bzw. in die weltanschauliche Regression. Andererseits ist niemand von uns eine Insel, daher gilt auch hier die Katalysator-Theorie: Religion und Glauben werden wohl in Zukunft nur noch dann als systemrelevant eingestuft, wenn sie nicht eine Verdoppelung der Hoffnungslosigkeit betreiben, sondern trotz Kriegs und globaler Krisen eine Theologie der Hoffnung für den Planeten Erde entwickeln. Diese enthält ebenso religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung wie eine neue Friedensethik, die nicht ideologische Gräben vertieft, sondern den Zusammenhalt der Menschheitsfamilie stärkt. Solche Aspekte spielen auch im Studium an der Theologischen Hochschule Chur eine wichtige Rolle.     

Führt Theologie als wissenschaftliche Auseinandersetzung zu einer anderen Selbst- und Weltdeutung als andere Studienfächer?  

Das hängt sehr von der Biografie der Studierenden ab und ich sehe in den letzten Jahren vor allem zwei Typen: Die einen sind schon kirchlich sozialisiert, waren Ministranten oder in der Jubla aktiv. Sie vertiefen vor diesem Hintergrund durch das Theologiestudium ihre schon länger gewachsene religiöse Selbst- und Weltdeutung. Oft ergreifen sie später einen kirchlichen Beruf und werden Priester, Diakon oder Pfarreiseelsorgerin. Andere waren eher religiös ungebunden und haben Glaube und Kirche erst später entdeckt. Sie wollen ihre Fragen dann philosophisch und theologisch vertiefen, was ein anderes Studium so nicht bieten kann. Auch sie gehen später oft in einen Kirchenberuf, aber suchen eine andere Auseinandersetzung mit existenziellen Grundfragen. Die Biografie spielt aber immer eine wichtige Rolle und wir machen das auch zum Thema in den Lehrveranstaltungen.  

Die UNO meldet erstmals mehr als 100 Millionen Flüchtlinge. Führt das Theologiestudium durch den Erwerb interkultureller Kenntnisse und Fähigkeiten auch zu einem neuen Ansatz, sich mit solchen Entwicklungen zu konfrontieren? 

Ja, absolut. Die Flüchtlingsfrage ist durchaus Thema im Studium, denn die Flüchtlinge sind zum Symbol geworden. Durch sie wird die Globalisierung sichtbar. Das Elend, das wir aus den Medien kennen, steht bei uns vor der Tür. Da fühlen sich gerade in den christlichen Kirchen viele Freiwillige aus karitativen wie aus politischen Gründen verantwortlich, mitzuhelfen. Helfen und die Frage nach meiner Motivation werden damit zu einem brisanten Thema der christlichen Ethik. Helfen hängt mit unserer christlichen Weltanschauung zusammen, aber stabilisiert auch meine eigene Identität. 

Bietet ein Theologiestudium tatsächlich das Werkzeug, konstruktiv an gesellschaftlich relevanten Debatten teilzunehmen? 

Für mich besteht ein wichtiger Beitrag des Theologiestudiums darin, junge Erwachsene vernunftfähig, aber auch resistent gegen Ideologien zu machen, was gar nicht so einfach ist. Wir spüren ja in Politik, Gesellschaft und Kirche eine gegenläufige Tendenz: Einerseits nimmt die Dynamik der beschleunigten Veränderung rasant zu. Andererseits steigt das Bedürfnis nach zeitloser Identität und kontinuierlicher Tradition. Einerseits wird zum Beispiel der Begriff der Wahrheit in einer Weise ökonomisiert und pluralisiert, dass Ausdrücke wie postfaktisch zu Chiffren für unsere Zeit wurden. Andererseits gibt es eine radikalisierte Suche nach Halt und Heimat, Identität und Ideal, Abgrenzung und ewigen Wahrheiten. Die hier angedeuteten Spannungen zwischen Progression und Regression finden sich auch in der katholischen Kirche wieder. Der von Papst Franziskus ausgelöste synodale Reformprozess hat Gegenkräfte auf den Weg gebracht und die bestehenden latenten Spannungen deutlicher hervortreten lassen. Sich genau damit zu beschäftigen und eine eigene Haltung zu entwickeln macht ein Theologiestudium im Moment enorm spannend. 

Ist ein Theologiestudium auch eine ideale Basis, um sich für eine demokratische, rechtsstaatliche und ökologische Gesellschaft zu engagieren? 

Wer Theologie studiert, spürt es vor allem in der Beschäftigung mit den Hoffnungsgeschichten der Bibel, mit Licht und Schatten der Kirchengeschichte und mit den Herausforderungen der Ethik, dass jede christliche Rede von Gott irgendwann politisch wird. Theologie zieht früher oder später praktische Handlungsoptionen nach sich; das macht sie einerseits unbequem, andererseits lässt sich mit Theologie die Welt verändern. Die Corona-Zeit hat auf allen Ebenen das Vertrauen in die Wissenschaft gestärkt, weil sich gezeigt hat, dass wir mehr brauchen als populistische Antworten. Die Theologie ist eine Geisteswissenschaft mit einer langen Tradition, die spannende Einsichten über Gott und die Welt zu bieten hat. Ich würde jederzeit wieder Theologie studieren.