Ist Putins Einmarsch in der Ukraine nur ein Kampf gegen Demokratien? Aus der Konfliktforschung ist bekannt, dass die Schuld nie nur auf einer Seite liegt, auch wenn sie oft nicht gleichmässig verteilt ist. Wendelin Fleischli, Theologe und ehemaliges Mitglied einer Ordensgemeinschaft, bringt in das derzeit vorherrschende Schwarz-Weiss-Bild eine ergänzende Sicht.
Der russische Präsident Wladimir Putin und eine Schicht von Oligarchen haben nach dem Zerfall der Sowjetunion den russischen Reichtum an sich gerissen, sodass Russland weitgehend von Kleptokraten beherrscht wird. Dass der Westen derweil vor allem an Demokratie und Menschenrechten interessiert sei, erweist sich oft als eine bewusste Täuschung. Demokratie und Menschenrechte werden als Schlagworte eingesetzt, um das eigene Tun zu bemänteln. Dazu nur wenige Beispiele: Als das grosse Geschäft mit China begann, wurden Werte wie Demokratie und Menschenrechte bewusst hinter Geschäftsinteressen zurückgesetzt, trotz aller brutaler Politik, zum Beispiel in Tibet. In der Schweiz wurde den hiesigen Tibetern das Demonstrieren gegen den chinesischen Staatsbesuch verboten. Man wollte nicht wieder den chinesischen Machthaber verärgern und wirtschaftliche Interessen aufs Spiel setzen. Jetzt, wo China zu einer Supermacht aufgestiegen ist (ironischerweise dank dieses Handels) und ein gefährlicher Konkurrent wurde, setzt der Westen die Menschenrechte wieder ganz oben auf die Agenda, um gegen China vorgehen zu können. Die USA fabrizierten Beweise, um mit anderen westlichen Staaten einen zweiten Krieg gegen den Irak führen zu können. Dieser kostete vielen Zehntausend Menschen das Leben. Damals gab es keine Sanktionen für die Fälschungen durch die Kriegsverantwortlichen. So wie Saddam Hussein Kuweit völkerrechtswidrig annektiert hatte, so gaben die USA ihrem verbündeten Diktator Suharto von Indonesien grünes Licht zur völkerrechtswidrigen Annexion von Osttimor im Sinne ihrer eigenen geopolitischen Interessen. Und was die USA in Chile mit der Demokratie gemacht haben, ist bekannt, ebenso dass die Militärmachthaber Argentiniens nicht ohne das grüne Licht des CIA Zehntausende von Menschen umbrachten.
Die WHO war bemüht, eine weltweit flächendeckende, für die Menschen erschwingliche medizinische Grundversorgung einzurichten. Die westlichen Staaten verhinderten dieses Vorhaben im Interesse ihrer Pharmakonzerne, deren Gewinnmöglichkeiten so geschmälert worden wären. Und erst kürzlich verhinderten Staaten wie die Schweiz, Grossbritannien und Deutschland, dass die Patente auf COVID-19-Impfstoffe auch nur für eine Zeit ausgesetzt würden, um deren Produktion weltweit verbreitern zu können. Wie viele Menschenleben sind da der Profitmaximierung geopfert worden? Der Westen hat Staaten des globalen Südens Investitionsschutzabkommen aufgezwungen, die ein himmelschreiendes Unrecht sind. Kolumbien kann Minenbetreiber nicht mehr mit Umweltschutzgesetzen dazu bringen, die Vergiftung von Flüssen zu unterlassen. Denn das würde die Gewinne der Rohstoffkonzerne mindern und diese haben das Recht, gegen einschränkende Gesetze zu klagen. Der Staat muss dann für die Minderung des Profits aufkommen.
Stellung der Stärke
Der Westen, allen voran die USA, betreiben hegemoniale Geopolitik, wo Wirtschaft und Militär, wenn nötig, eng miteinander einhergehen. Das hat auch Russland zu spüren bekommen. Natürlich betreibt auch Russland solche Politik, aber weniger ausgeprägt. Am Ende des Kalten Krieges mit seinem Gleichgewicht des Schreckens zog sich Russland aus Osteuropa zurück, während die NATO nicht nur in Deutschland blieb, sondern nach Osten vorrückte, wobei zu sehen ist, dass da berechtigte Sicherheitsbedürfnisse der Osteuropäer im Spiel waren. Dann aber stationierte die NATO sehr bald ein ballistisches Raketenabwehrsystem in Osteuropa. Das bisherige militärische Gleichgewicht wurde empfindlich gestört. Russland sah, wie der Westen seine Stellung der Stärke ausnützte gegenüber der eigenen schwächeren Stellung nach dem Zerfall der Sowjetunion. Denken wir daran, dass der Westen schon zweimal in Russland eingefallen ist, was dem russischen Volk stark im Bewusstsein ist. Die Westler denken, dass sie immer friedlich seien und es bleiben würden, was natürlich naiv ist, wie die hegemonialen Bestrebungen zeigen. Die jetzige Situation, in der Belarus einen Herrscher hat, der auf Russland angewiesen ist, und die USA ihr Hauptaugenmerk im Kampf um die Vorherrschaft in der Welt auf den asiatischen Raum mit China legen müssen, nützt Putin aus, um die Ukraine und Belarus einzusacken.
Fazit: Im Ukraine-Krieg hat ein autokratisch regiertes Land ein Land angegriffen, das im Begriff war, Demokratie zu lernen. Aber der Grund für den Angriff war primär geopolitischer Natur. Und in dieser Geopolitik hat der Westen eine grosse Mitverantwortung. Da einfach auf den sekundären Kriegsgrund Niederhalten von Demokratie auszuweichen ist unehrlich. Und das sei noch angefügt: Das Schicksal ist oft sehr ironisch. Wenn Putin und die russische Elite jetzt Demokratiebestrebungen niederhalten können, kann der jetzige Krieg recht schnell zum Bumerang werden. Denn der Wille zur Demokratie der Ukrainer kommt so direkt in die russische Einflusszone und könnte von da aus dann mit der Zeit ganz Russland erfassen.