Widerspruchsregelung bei Organentnahmen: Nutzen statt Menschenwürde
Noch in diesem Jahr wird die Schweiz voraussichtlich über die Initiative zur Einführung der Widerspruchsregelung bei der Organentnahme abstimmen. Nach dieser würden allen in der Schweiz sich aufhaltenden Personen Organe entnommen werden dürfen, es sei denn, sie haben sich dagegen ausgesprochen. Dies gälte selbst für Durchreisende.
Zu dieser Initiative besteht ein «Gegenvorschlag» des Bundesrats. In der NZZ vom 17. Februar 2021 legt der Jurist Christoph A. Zenger, Professor und Mitglied der rechtswissenschaftlichen Fakultät und des Zentrums für Gesundheitsrecht und Management im Gesundheitswesen der Universität Bern, in einem Gastkommentar detailliert dar, dass und inwiefern auch dieser Gegenvorschlag gegen verbürgte Selbst- und Mitbestimmungsrechte des Einzelnen verstosse: «Inhaltlich bildet der ‹Gegenvorschlag› somit keine Alternative zur Initiative, sondern führt diese nur aus und erweitert sie sogar inhaltlich. Er teilt daher auch die Problematik der Initiative: Die Widerspruchslösung ermöglicht das Ausnutzen von Zwangslagen, Abhängigkeiten, Unerfahrenheit, Unwissen, Unfähigkeit und Schwäche im Urteilsvermögen vieler Personen; diese werden zu Organlieferanten, ohne davon zu wissen oder sich wehren zu können.»
Die Initiative und nun auch der «Gegenvorschlag» des Bundesrates sind ein weiterer Schritt hin zu einer Transplantationsmedizin, welche die individuellen Abwehrrechte des Einzelnen missachtet.
Zuvor wurden der Entscheid für vorbereitende Massnahmen für eine Organentnahme und deren Durchführung vor den Eintritt des Hirntods verlegt, das heisst, sobald heute auf einer Intensivstation der Entscheid getroffen worden ist, dass lebenserhaltende Massnahmen keinen Sinn mehr ergäben, kann ohne direkte Einwilligung des Patienten stellvertretend durch seine Angehörigen über eine Organentnahme entschieden und der urteilsunfähige Patient hierfür vorbereitet werden.
Die Zahl solcher Fälle hat sich von 2018 auf 2019 verdoppelt. Sie machen nun bereits fast die Hälfte aller Organentnahmen aus. Die angedachten Änderungen bei der Organentnahme stehen im Kontext eines sich zurzeit anbahnenden Paradigmenwechsels bei der Entscheidungsfindung in der Medizin: Ein allfälliger Fremdnutzen soll der Würde des Menschen vorgehen. Dabei werden die individuellen Abwehrrechte des Einzelnen zugunsten des Gesundheitsnutzens von vielen relativiert. Dies ist nicht nur in der Transplantationsmedizin so, sondern trifft auch auf viele andere Bereich im Gesundheitswesen zu, zum Beispiel den Schutz der Gesundheitsdaten. In der Abstimmung zur Widerspruchsregelung stehen in der Verfassung garantierte Grundrechte und normative Voraussetzungen der Medizin- und Pflegeethik zur Disposition.
Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle leitet das Institut Dialog Ethik in Zürich. Dieses ist spezialisiert auf ethische Fragen im Gesundheits- und Sozialwesen. Sie ist Expertin für ethische Fragen in Organisation und Gesellschaft. Als Autorin publiziert sie regelmässig und ist Dozentin im In- und Ausland.