Eine neue Studie belegt die Raffinesse der Giraffen-Gehirne. Die Ergebnisse weisen auf eine Intelligenz und Sozialität hin, die tiefer und komplexer ist als bisher angenommen.

Carl Meissen

 

Giraffen sind nicht nur wenig erforscht, sondern die meisten Studien wurden in Zoos durchgeführt, in Situationen, die sich von denen in der freien Natur stark unterscheiden. Auch die neuesten Forschungen stammen aus Experimenten im Zoo von Barcelona. Es ging dabei um die Frage, ob Giraffen Statistiken verstehen. Getestet wurde mit Scheiben der beliebten Karotten und mit Scheiben der viel weniger geschätzten Zucchini. In drei verschiedenen Versuchen, bei denen die sichtbaren Anteile der beiden Gemüsesorten variierten, bevorzugten die Giraffen immer die Schale, die mehr Karotten versprach. Haben die Giraffen die sichtbaren Karotten gezählt? Im dritten Test war die Anzahl der sichtbaren Karotten in beiden Behältern gleich, nur die Anzahl der Zucchini änderte sich. In diesem Fall wählten die Giraffen nicht den Behälter mit den meisten Karotten, sondern denjenigen, der ein besseres Verhältnis zwischen Karotten und Zucchini versprach. Kurzum, sie sind eindeutig in der Lage, das Konzept einer repräsentativen Stichprobe zu nutzen. Was machen die Giraffen, die in den Baumwipfeln fressen, mit dieser statistischen Fähigkeit? Giraffen legen in der Savanne grosse Entfernungen zurück. Es kann deshalb sehr nützlich sein, die Richtung zu bestimmen, in die sie gehen wollen, indem sie aus der Ferne einschätzen, wo die grünsten Bäume am wahrscheinlichsten zu finden sind. Vermutlich würden auch Elefanten, die ähnlich leben, diesen Test gleich bestehen. Die soziale Organisation von Giraffen kommt nahe an die der Dickhäuter heran. Bei beiden Arten leben die beiden Geschlechter die meiste Zeit in getrennten Herden: Sie mischen sich nur während der Brutzeit oder wenn es reichlich Ressourcen gibt. Während in den männlichen Giraffen-Gruppen die aggressiveren Individuen dominieren und die anderen durch Schläge mit dem Hals, mit den grossen Knochen (den Hörnern, die auch eine thermoregulierende Funktion haben) und mit Tritten unterwerfen, steht bei den weiblichen Tieren die Autorität des älteren Weibchens an der Spitze. Die Anführerin leitet die Gruppe nicht nur zu Futter und Wasser, sondern kümmert sich auch um die verwaisten Jungtiere, die sie zwei Jahre lang betreut, um Überlebenstechniken und soziale Regeln zu vermitteln. Giraffen haben erstaunliche kognitive und verhaltensbezogene Fähigkeiten. Die Evolution bringt Lösungen hervor, die einen sehr raffinierten Kompromiss zwischen Gelegenheit und Beschränkung darstellen: Im Falle der Giraffen bestand die Gelegenheit darin, die intakte Nahrungsnische der Baumblätter zu erreichen, aber das bedeutete, sehr lange Hälse und Beine zu entwickeln, was eine Reihe von physiologischen Problemen mit sich brachte. Zum Beispiel die Sicherstellung eines konstanten Blutflusses zum Gehirn, das sich zwei Meter oberhalb des Brustkorbs befindet: Die Lösung bestand darin, ein sehr leistungsfähiges Herz zu entwickeln, aber auch ein Netz von Blutgefässen mit Ventilen im Hals und in den Beinen, die den Überdruck auffangen, der sonst zum Beispiel die Hirnarterien zum Platzen bringen könnte, wenn das Tier seinen Kopf zum Trinken auf den Boden senkt. Weibchen gebären im Stehen, und das Neugeborene fällt bereits aus einigen Metern Höhe mit den Beinen nach vorne, um den Aufprall abzufedern.