Bauern, Jäger, Wissenschaftler, Tierschützer, Politiker und Bürger streiten sich in Italien über einen nationalen Wildschwein-Notstand. Die Tiere drängen in die Städte für ein besseres Wohlergehen. Wie damit umzugehen ist, wird sehr kontrovers debattiert. 

von Florian Fink 

Sie kommen ungestört aus dem nahen Insugherata-Naturschutzgebiet herunter, um sich in der Nacht in Rom zu verpflegen. Die Kost besteht aus Abfall und deshalb kippen sie Plastikmüllcontainer um. Das ist das neue Bankett der Wildschweine Italiens. Die Schlagzeilen lauten deshalb: «Rieti: die Jagd auf infizierte Wildschweine hat begonnen, Genua: Protest gegen Tötung, Apulien: Landwirte am Rande des Abgrunds, Catanzaro: Wildschweine in der Gegend unterwegs.» In Italien scheint der Sommer 2022 den Wildschweinen zu gehören, die sich in der städtischen Agglomeration breitmachen.  

Vor zehn Jahren wurden Wildschweine nur in zwei Städten gesichtet: in Triest und in Genua. Jetzt sind sie in 105 Städten zu sehen. Pro Jahr wurden früher 300 000 Wildschweine geschossen, im Jahr 2020 aber war es bereits ein Million. Das sind Schätzungen, denn der Staat führt keine entsprechende Jagd-Statistik. Wie kam es dazu? Mitte der 1950er-Jahre waren Wildschweine in Italien fast ausgerottet. Sie lebten zurückgezogen nur noch in der Maremma und in Castel Porziano. Dann beschlossen die Regionen und Provinzen eine Wiederbesiedlung in ihren Gebieten, um eine jagdlich verwertbare Fauna zu erhalten. Entgegen dem Narrativ, es handle sich um rumänische Wildschweine, haben genetische Tests gezeigt, dass die tierischen Städtebesucher sehr italienisches Blut haben.  

Bei einer Ernährung mit Eicheln erreicht ein Weibchen nach dem ersten Lebensjahr ein Mindestgewicht von 30 bis 35 Kilo. Mit Esswaren aus dem Abfall kommt es schon innert sechs Monaten auf dieses Gewicht. Und mehr Gewicht bedeutet – auch bei Schweinen – mehr Fresslust. Die Tiere sehen schlecht, verfügen aber über einen phänomenalen Geruchssinn. Es ist die Nase, die die Wildschweine aus dem Wald führt. Sie folgen der Pheromonspur anderer Tiere, die den Übergang in die urbane Zivilisation bereits geschafft haben.  

Italien hatte in den vergangenen 70 Jahren 6000 Hektar Wald hinzugewonnen, eine Fläche so gross wie das Aostatal. Aber der Mensch hat sich gleichzeitig aus dem Wald zurückgezogen. Das zeigt die Wald-Ernte: Die Gewinnung von Holz, Kastanien und Pinienkernen ist um 60 Prozent zurückgegangen. Das hat die Ausbreitung der Wildschweine begünstigt. Diskutiert wird deshalb, die Selektionsjagd auf das ganze Jahr auszudehnen. Derweil laden Tierschützer Wildschweine in ihre Autos, um sie in abgelegene Gebiete zu retten. 

Doch das Vertrauen in die Rolle der Jäger bei der Lösung des Problems ist gering, weil sie es mit ihren früheren Freisetzungen mitverursacht haben. Erörtert werden auch Käfigfallen in Städten, die jedoch teuer sind und viel Arbeit verursachen. In Triest hat die Stadtverwaltung vor Jahren schon eine sauberere Stadt propagiert, die öffentlichen Gärten eingezäunt und appelliert, Höfe zu sperren. Seither gilt das Problem mit den Wildschweinen aus den slowenischen Karstgebiet als gelöst.