Der Rechtspopulist Javier Milei könnte am 22. Oktober Argentiniens neuer Präsident werden. Die Wahlen finden zwischen Demokratieverdruss, Protesten und Hoffnungslosigkeit statt.
Manuel Meyer
Mit wilder Rockmusik und schwarzer Lederjacke springt Javier Milei in Buenos Aires auf die Wahlkampfbühne. El León, der Löwe, ist sein Spitzname. Löwenartig ist nicht nur seine unfrisierte wilde Mähne, sondern auch sein aggressiver Ton: Seine politischen Gegner – vor allem die Mitglieder der aktuellen Regierung – verteufelt der wortgewandte Rechtspopulist hemmungslos als «Drecksäcke» und «Parasiten». Der Staat und die traditionellen Parteien seien die «Grundlage aller Probleme», eine «kriminelle Mafia» und «Krebsgeschwüre». Gelegentlich nimmt der Choleriker sogar eine Motorsäge mit auf die Bühne, um zu veranschaulichen, was er mit der bisherigen Politik machen werde, sollte er an die Macht kommen. Er verherrlicht die frühere Militärdiktatur und verleumdet deren Verbrechen. Er will das Recht auf Waffen zur Selbstverteidigung lockern, den Organhandel legalisieren und Abtreibungen verbieten. Die Klimakrise bezeichnet er als eine «sozialistische Lüge».
Bis vor Kurzem war Milei noch ein politischer Aussenseiter. Erst im Juli 2021 gründete er seine rechte Parteienallianz «La Libertad Avanza» (Die Freiheit schreitet voran), die lediglich mit drei Abgeordneten im Parlament in Buenos Aires vertreten ist. Doch nun gilt der polemische Shootingstar als der grosse Favorit, am 22. Oktober – just an seinem 53. Geburtstag – die nächsten Präsidentschaftswahlen in Argentinien zu gewinnen. Wahlprognosen sagen seiner Partei weit über 40 Abgeordnete
voraus, was natürlich Koalitionen mit anderen Parteien notwendig machen würde, um eine Regierungsmehrheit zu erreichen. Aber die Massen auf seinen Wahlkampfmeetings jubeln ihm zu, feiern ihn wie einen Rockstar. «Sein Erfolg basiert auf seinem Image eines politischen Rebellen, der mit der bisherigen Politik und den traditionellen Parteien bricht und aufräumen will», erklärt Tomás Múgica, Soziologe an der katholischen Universität von Buenos Aires.
In einem Land, in dem seit 20 Jahren nahezu ununterbrochen linke Regierungen an der Macht sind, gilt es als rebellisch, rechts zu sein.
Als Ökonom tingelte der Sohn eines wohlhabenden Busunternehmers durch alle Talkshows. Denn mit seinen cholerischen und extravaganten Auftritten, in denen er sich oftmals als Batman verkleidete, sorgte er beim trockenen Thema Wirtschaft für beste Unterhaltung – und damit Quote. Die Oberschichten sehen in ihm den Kapitalisten und Verfechter einer freien Marktwirtschaft. Die Armen erhoffen sich von ihm, dass er die Wirtschaftskrise wieder den Griff bekommt. Soziologe Múgica spricht von einer möglichen Protestwahl: «Die Menschen sind unzufrieden und enttäuscht von den traditionellen Parteien, die es seit Jahrzehnten nicht hinbekommen, die wirtschaftliche und mittlerweile auch humanitäre Krise zu meistern.» Argentinien leidet unter einer Hyperinflation von 140 Prozent. Mit schweren sozialen Auswirkungen: Rund 40 Prozent der 46 Millionen Argentinier arbeiten zu Dumpinglöhnen teils in der Schattenwirtschaft und leben mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze. Die Mittelschicht verschwindet langsam.
Bereits 2001, als Argentinien eine Finanzkrise durchstand, die Währung kollabierte und Hunderttausende ihre Jobs und Ersparnisse verloren, eröffnete Carmen Mansilla Suárez eine Suppenküche. «Doch heute, nach über 20 Jahren, ist es fast wieder genauso schlimm wie damals», sagt sie. Mit ihrer Organisation «La Dignidad» (Die Würde) versorgt sie mittlerweile bis zu 70 Hilfsbedürftige – täglich. Das Problem: Die Inflation frisst die Löhne, Renten und die mickrigen staatlichen Sozialhilfen direkt wieder auf. Kritiker bezeichnen die Sozialmassnahmen abfällig als blosses «Armuts-Management».
In den vergangenen Jahren habe sich viel Frustration bei den Menschen aufgestaut, erklärt Soziologe Tómas Múgica. Seit dem Ende der rechten Militärdiktatur 1983 würden sich die Konservativen und eher linken
Peronisten in Argentinien an der Macht abwechseln. Doch keine Partei habe die wirtschaftlichen und sozialen Probleme jemals wirklich unter Kontrolle bekommen. So dürfte es auch besonders dem sozialistischen Kandidaten Sergio Massa schwerfallen, sich gegen Milei durchzusetzen. Als Wirtschaftsminister der aktuellen peronistischen Regierung unter dem noch amtierenden Präsidenten Alberto Fernández und Hauptverantwortlicher der desaströsen Finanz- und Wirtschaftspolitik kann sich Massa kaum als neue Hoffnungsfigur verkaufen.
Vetternwirtschaft und Korruptionsskandale in beiden grossen Volksparteien machten den Verdruss über die Demokratie nur noch grösser. «In einer solchen Situation tendieren die Menschen derzeit dazu, die traditionellen Parteien aus Protest und Wut nicht nur abzustrafen, sondern wollen auch neue Lösungsvorschläge», so der Soziologe. Und neue wirtschaftliche Lösungsvorschläge biete Javier Milei, erklärt Wirtschaftsprofessor Emilio González von der Comillas-Universität ICADE. Wahlfavorit Milei verspricht, das Land mit radikalen Umwälzungen aus der Krise zu ziehen. So will er die Zentralbank abschaffen und den US-Dollar als Währung einführen. Die öffentlichen Ausgaben sollen radikal gekürzt und das Bildungs- und Gesundheitssystem privatisiert werden.
Das seien durchaus Massnahmen, um die Inflation zu stoppen. Man müsse allerdings schauen, ob Milei mit einer Minderheitsregierung diesen radikalen Kurs auch so durchziehen könne und ob der Internationale Währungsfonds und vor allem die US-Notenbank dabei mitspielen würden, gibt González zu bedenken. Doch das beeinträchtigt die Wahlkampfversprechen des argentinischen Rechtspopulisten nicht. Bevor er Steuern erhöhe oder neue einführe, würde er sich «eher einen Arm abhacken», so der Ökonom Milei. Den Staat sieht er als eine «kriminelle Organisation, die von den Steuern lebt und das argentinische Volk ausraubt. Wir geben das Geld zurück, das die politische Kaste gestohlen hat.» Das kommt bei vielen gut an