Papst Franziskus geht mit der Tradition flexibel um. Eva-Maria Faber, Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur, bezeichnet das als Dehnungsübungen und zeigt im folgenden Artikel auf, wohin das führt.

 

In der Anfangszeit des Pontifikates von Papst Franziskus kamen mir viele seiner Äusserungen wie Dehnübungen vor. Wer unter verspannten Körperregionen oder blockierten Bewegungsabläufen leidet, bedarf solcher therapeutischen Mittel. Sie sind gewissermassen ein Signal an Muskeln, Sehnen und Bänder, welche Reichweite und Beweglichkeit (wieder) zu erreichen wären. Solche Dehnübungen mutete Papst Franziskus der römisch-katholischen Kirche zu. Viele seiner Aussagen durchbrachen Konventionen. Seine Spontaneität forderte gewissermassen die Beweglichkeit der Denkgewohnheiten heraus. Einer Kirche, die sich krank um sich selbst dreht, verordnete er das Hinausgehen: «uscire!» Solche Dehnübungen veränderten Kriterien. Ein Brief der Glaubenskongregation sei nicht so wichtig wie beherztes Engagement, selbst auf die Gefahr hin, dass es auch einmal in eine falsche Richtung führen könnte. Als Aktionsplan könnten jungen Menschen die Seligpreisungen und Matthäus 25 genügen. Die täglichen Kurzpredigten von Santa Marta machten Schlagzeilen, weil sie die christliche Botschaft fern von Floskeln existenziell zur Sprache brachten.

Den Appell zu solcher Beweglichkeit unterstrichen auch einige Passagen des ersten Apostolischen Schreibens «Evangelii gaudium» im November 2013. Während in traditioneller Sprache das «Neue» immer etwas verdächtig war, wurde es hier zum Erkennungsmerkmal Jesu Christi, der «die langweiligen Schablonen» durchbricht und «mit seiner beständigen göttlichen Kreativität» überrascht: «Jedes Mal, wenn wir versuchen, zur Quelle zurückzukehren und die ursprüngliche Frische des Evangeliums wiederzugewinnen, tauchen neue Wege, kreative Methoden, andere Ausdrucksformen, aussagekräftigere Zeichen und Worte reich an neuer Bedeutung für die Welt von heute auf. In der Tat, jedes echte missionarische Handeln ist immer ‹neu›.»

Die Gabe der Unterscheidung

Dazu passte die Aufforderung, mit Unterscheidungsvermögen jene Bräuche, Normen und Vorschriften aufzuspüren, die heute nicht mehr geeignet sind, die Botschaft des Evangeliums weiterzugeben. «Sie [die Bräuche] mögen schön sein, leisten jedoch jetzt nicht denselben Dienst im Hinblick auf die Weitergabe des Evangeliums. Haben wir keine Angst, sie zu revidieren! In gleicher Weise gibt es kirchliche Normen oder Vorschriften, die zu anderen Zeiten sehr wirksam gewesen sein mögen, aber nicht mehr die gleiche erzieherische Kraft als Richtlinien des Lebens besitzen.» In diesem Zusammenhang schien Papst Franziskus auf bemerkenswerte Weise auch ein Übermass von Vorgaben zu relativieren. Thomas von Aquin habe betont, dass Christus und die Apostel dem Volk Gottes nur «ganz wenige» Vorschriften hinterlassen hätten. Die später hinzugekommenen Vorschriften seien, so zitiert Papst Franziskus Augustinus, «mit Mass einzufordern […], ‹um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen› und unsere Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während ‹die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei›». Papst Franziskus unterstreicht dann mit Nachdruck: «Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten gegeben wurde, besitzt eine erschreckende Aktualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in Betracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht wird.»

Auch im weiteren Verlauf des Pontifikates wiederholte Papst Franziskus ähnliche Aussagen. Zum 25. Jahrestag des Katechismus der Katholischen Kirche formulierte er 2017: «Die harmonische Entwicklung der kirchlichen Lehre gebietet es, Positionen zu vermeiden, die an Argumenten festhalten, die längst eindeutig einem neuen Verständnis der christlichen Wahrheit widersprechen. […] Man kann das Wort Gottes nicht einmotten als wäre es eine alte Wolldecke, die man vor Schädlingen bewahren müsste. […] Man kann die Lehre nicht bewahren, ohne ihre Entwicklung zuzulassen. Man kann sie auch nicht an eine enge und unveränderbare Auslegung binden, ohne den Heiligen Geist und sein Handeln zu demütigen.»

Papst Franziskus traute sich auch, auf Themen des Zweiten Vatikanischen Konzils (zum Beispiel die Bedeutung der Bischofskonferenzen und das Thema Dezentralisierung) oder auf den Anstoss von Papst Johannes Paul II. zu einer veränderten Form der Ausübung des Petrusdienstes zurückzukommen, und zwar mit dem kritischen Kommentar: «In diesem Sinn sind wir wenig vorangekommen» (Evangelii gaudium Nr. 32).

Diese Bemerkung aber ist es nun, die 2023, nach einem Jahrzehnt des Pontifikates von Papst Franziskus, einen schalen Beigeschmack bekommt. Auch mit vielen der Denkanstösse und Appelle von Papst Franziskus sind wir «wenig vorangekommen».

Nur an wenigen Stellen griff Papst Franziskus in das bestehende Lehr- und Gesetzesgebäude ein. Ein Beispiel ist die «Rahmenordnung» für die Bischofssynode: Neu soll das Volk Gottes im Vorfeld konsultiert werden; zudem ist das Instrument vorsynodaler Versammlungen als eine Weise der Vorbereitung von Bischofssynoden definiert worden. Ein weiteres Beispiel für eine ausdrückliche Veränderung betrifft die Position der römisch-katholischen Kirche zur Todesstrafe: Im Katechismus der Katholischen Kirche wird sie nun anders als zuvor als unzulässig erklärt (Nr. 2267). Anderes, zum Beispiel neue Sichtweisen von Partnerschaft, Ehe und komplexe Familiensituationen, blieb auf einer unverbindlicheren Ebene.

Im Bild des Anfangs formuliert: Wer die Dehnübungen mitvollzogen hat, wundert sich nach zehn Jahren, dass die neue Beweglichkeit in mancherlei Hinsicht doch nicht erwünscht scheint. Ist Papst Franziskus von einer blockierten, gelähmten kirchlichen Struktur eingeholt worden? War er zu optimistisch, dass die Dehnübungen wie von selbst das ganze System verändern würden? Müssten nicht auch Fehlhaltungen, die solche Dehnübungen notwendig machten, korrigiert werden? Die atmosphärischen Veränderungen bleiben zwiespältig und angefochten, solange Normen und Lehre die Beweglichkeit zum Beispiel regionaler Entwicklungen oder pastoraler Haltungen einschränken.