Alle Menschen, die Wirkungen erreichen wollen, haben Ziele. Das galt auch für den Menschen Jesus. Nach der Auffahrt rückt die Frage ins Zentrum, was seine erkennbaren Ziele waren und wie man sich an ihnen orientiert.

Jürgen Wiegand

 

Es entstand ein erbitterter Streit unter den Teilnehmenden. Sie waren zu einem ökumenischen Gesprächsanlass gekommen. Das Thema lautete «Christen und Krieg». Die einen gaben sich in der Diskussion als Pazifisten zu erkennen und zitierten dazu das Neue Testament, etwa Jesu starke Aussage nach Matthäus in der Bergpredigt: «Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.» Dieser Haltung widersprachen viele andere Anwesende heftig. Sie führten unter anderem an, dass Gegenwehr gegen einen kriegerischen Angreifer ein Akt der Selbst- und Nächstenliebe sein könne. Es gelte dann, sich und andere Menschen zu schützen – nötigenfalls mit Waffengewalt.

In dieser Situation wäre es eigentlich für Christen naheliegend gewesen, sich darauf zu besinnen, was hinter Jesu Worten und Taten stand, also seine Zielsetzungen zum Thema Gewalt. Denn alle Menschen, die etwas bewirken wollen, haben oder setzen Ziele. Da machte Jesus keine Ausnahme. Bekannt ist laut Neuem Testament die Zielsetzung:

 «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Das ist ein Doppel-Ziel, bei dem die Mittel, dieses möglichst gut zu erfüllen, uns überlassen bleiben. Beim Sabbatgebot verdeutlicht Jesus, dass nicht einzelne Worte in der Tora, der jüdischen Bibel, massgeblich sind, sondern der Sinn – hier Synonym für Ziel – dahinter. Das geschah, nachdem er scharf dafür kritisiert wurde, am Sabbat zusammen mit seiner Begleitung Ähren abzureissen, um den Hunger zu stillen. Im Neuen Testament findet man zahlreiche ähnliche Beispiele. Man denke etwa an die Szene mit dem Pharisäer und Zöllner im Tempel, bei der letzterer das richtige Ziel verfolgt, Gott um Gnade zu bitten.

Sehr oft aber sind im Neuen Testament Jesu Ziele nur hinter seinen Worten und Taten zu erkennen. Das zeigt das Beispiel Ehescheidung. Beschäftigt man sich mit Jesu Zielsetzungen hinter den harten Worten im Neuen Testament, so wird deutlich, dass es auch oder gar vor allem um Gerechtigkeit für Frauen geht. Das bringt eine deutliche Akzentverschiebung im Verstehen des biblischen Textes. (In meinem Buch «Christentum neu – entschlackt und offen» bringe ich weitere Beispiele.)

Merkwürdigerweise sind aber Jesu persönliche Ziele und seine an uns gerichteten Zielsetzungen, die hinter seinen Worten und Handlungen stehen, viel zu wenig Gegenstand der Bibelwissenschaften und Verkündigungen in den Kirchen. Man bezieht sich in der Regel nur auf das, was direkt im Neuen Testament zu lesen ist. Doch die Hoffnung, dass man mit dem direkten Bezug auf die überlieferten Texte Jesus am sichersten versteht, bewahrheitet sich höchstens teilweise. Das verwundert auch nicht. Wir wissen heute, dass sich Jesus mit seinen Worten und Handlungen an den Menschen in Palästina vor 2000 Jahren orientierte. Die mussten ihn ja verstehen können, nicht wir. Die Autoren des Neuen Testamentes schrieben erst Jahrzehnte später dazu, hatten beim Schreiben auch eigene Ziele und wählten als Form vor allem Erzählungen. Später kam es zu diversen textlichen Ergänzungen mit bestimmten Absichten. Zudem unterlagen die Übersetzungen in verschiedene Sprachen, zu Beginn bereits vom Aramäischen ins Griechische, starken kulturellen Einflüssen. So kommt es, dass im Neuen Testament unterschiedliche und teils einander widersprechende Aussagen stehen, was Jesus gesagt oder getan habe. Das gilt auch für zentrale Themen wie das Reich Gottes. Selbst wenn man mehr Klarheit gewinnt, wovon Jesus vor 2000 Jahren die Menschen überzeugen wollte, bleibt das Problem der Interpretation für unsere heutige Zeit.

Die vermutete Scheu, sich mit Jesu Zielen, die seinen Worten und Handlungen zugrunde liegen, zu beschäftigen, könnte eine Hauptursache haben: die früher unbestrittene Überzeugung, dass im Neuen Testament von Gott stammende, zumindest von Gott stark inspirierte Worte stehen, an die man sich möglichst genau halten müsse.

Es bringt für uns Heutige viel, diese Scheu zu überwinden und die Beschäftigung mit Jesu Zielen und Zielsetzungen als einen möglichen Weg zu wählen. Dafür sprechen folgende generelle Vorteile von Zielformulierungen:

  • Ziele geben ohne Umweg an, in welcher Richtung eine Wirkung erreicht werden soll, was die Absicht oder der Zweck von Worten und Handlungen ist.
  • Wie man Ziele gut erfüllt, bleibt offen. Je nach Situation und Möglichkeiten lassen sich die Mittel der Zielerfüllung bestimmen. Das unterscheidet sie von gesetzlichen Vorgaben oder Normsetzungen.
  • Ziele lassen sich klar in unserer heute üblichen Umgangssprache formulieren.

Der erst genannte Vorteil erscheint so wichtig, weil Jesus ja für die Lebenswelt vor 2000 Jahren in Palästina sprach. Dabei bediente er sich auch oft, wie im jüdischen Umfeld damals durchaus üblich, einer provozierenden und apodiktischen Sprache. Eines seiner persönlichen Ziele war ja, die Menschen aufzurütteln, von falschen Auffassungen und Wegen abzubringen. Mit Zielformulierungen lässt sich der Kern von Jesu Anliegen, losgelöst von einzelnen Worten und Handlungen vor 2000 Jahren, herausarbeiten.

Dieses Loslösen erfolgt auch von damals vielleicht sinnvollen Handlungen, für die heutzutage andere und auch verschiedene Mittel zur Verfügung stehen. Jesu Vorschlag, einem ohrfeigenden Angreifer auch die andere Backe hinzuhalten, sollte diesen überraschen, zur Besinnung bringen und damit friedensbereit stimmen. Dieses Ziel lässt sich aber vielleicht auch durch passende Worte oder eine «coole» Haltung erreichen – so geschehen bei der Oscar-Verleihung 2022, bei der der Moderator eine Ohrfeige bekam.

Den Vorgang der Trennung von Absichten in Form von Zielen und der Mittel, diese zu erreichen, verstärkt der dritte Vorteil von Zielen: Diese lassen sich in unserer Umgangssprache formulieren und sind daher ohne Interpretationshilfen zu teils altertümlichen Texten im Neuen Testament in unserer Zeit verständlich.

Die eingangs geschilderte Diskussion zum Thema «Christen und Krieg» hätte von einer entsprechenden Beschäftigung mit Jesu Zielsetzungen profitiert. Dazu als Szenario:

Man löst sich von vorgefassten Meinungen – hier Pazifisten und dort Befürworter von Waffenhilfen – und besinnt sich zunächst auf Jesu Zielsetzungen. Einig ist man sich alsbald, dass Jesu als eines der Hauptziele fordert, «für Frieden zu sorgen». Danach diskutiert man Teilziele, die das Hauptziel präzisieren, etwa «gute Bedingungen für Erfolg versprechende Verhandlungen». Nach dieser Auslegeordnung der Ziele folgen offene Überlegungen, welche verschiedenen Möglichkeiten bestehen, in einer Situation wie dem Angriffskrieg von Russland die Ziele zu erreichen. Das geschieht unter Verzicht auf alte biblische Formulierungen, stattdessen in heute leicht verständlicher Sprache.

Es ist anzunehmen, dass bei dem komplexen Kriegsthema auch der Ziel-Weg in der Diskussion keine Einigung bringt. Doch beschäftigt man sich zunächst mit Jesu Zielsetzungen für uns – für Christen der Massstab. Sodann betrachtet man die Situation und Lösungsmöglichkeiten offener und gewinnt mehr Verständnis füreinander. Es lohnt also, den Weg über Jesu Ziele neu zu entdecken.