Anfang April ist der emeritierte Abtprimas des Benediktinerordens Notker Wolf mit 83 Jahren unerwartet verstorben. Bis 2016 war er der weltweite Vorsitzende von 7500 Mönchen und 16 500 Nonnen. 

Markus Muff

 

Notker Wolf war einmal mehr mit einer Gruppe von Pilgern aus Deutschland unterwegs; sie besuchten die Benediktinischen Stätten in Italien. Allen voran den Geburtsort des Heiligen Benedikt – das umbrische Städtchen Nursia. Bei den nachfolgenden Orten konnte Wolf die Pilgergruppe nicht mehr als Geistlicher Begleiter führen – er hatte sich bereits an Ostern nicht wohlgefühlt und zeigte Erkältungssymptome, wollte die Pilgerreise jedoch nicht absagen. Auf dem Flug von Florenz über Frankfurt nach München erreichte er den Anschlussflug nicht und musste die Nacht im Hotel verbringen. Dort kam es zu einem akuten Herzversagen mit tödlichem Ausgang. Am nächsten Morgen mussten die Verantwortlichen die traurige Nachricht vom Tod des Abtprimas Notker Wolf entgegennehmen.

Unzählige Reisen – wie diese letzte – prägten die vergangenen Jahrzehnte von Notker Wolf. Der oberste Repräsentant der Benediktiner war ständig unterwegs oder, besser gesagt, ständig im Flugzeug. Selten tat er dies, um an einem abgelegenen Ort Kraft zu tanken. Die allermeisten Reisen waren Dienstreisen – rund um den Globus, wie Notker Wolf immer wieder betonte. Anders als ein Bischof, der für eine regional definierte Diözese zuständig ist, trug Notker Wolf – wie er gerne hervorstrich – die Verantwortung für die rund 800 benediktinischen Gemeinschaften in aller Welt. In allen fünf Kontinenten sind die Benediktiner mit ihren Klöstern vertreten; rund 200 Schulen und ein gutes Dutzend Universitäten gehören zum «Portefeuille» der repräsentativen Aufgaben, die sich Notker Wolf zu Herzen nahm.

Wolf war sich sehr bewusst, dass er kein Generalabt war. Über die allermeisten Abteien hatte er keine Entscheidungsgewalt – die wenigen Ausnahmen waren eher eine Last. Die Benediktiner hatten sich dem Ansinnen des Papstes Leo XIII. nicht gefügt, als er Ende des 19. Jahrhunderts aus den Benediktinern einen veritablen Orden machen wollte. Als eine Art Kompromiss wurde die Figur des Abtprimas der Benediktiner mit Sitz in Sant’Anselmo in Rom geschaffen. Notker Wolf erhielt im Jahr 2000 von den Äbten aller Männerklöster dieses Mandat und übte es mit grossem Engagement aus. Noch einmal: Er nahm sich die einzelnen Klöster, die einzelnen Nonnen, Schwestern und Mönche zu Herzen. Er mochte die Menschen und war für alle ansprechbar.

Meist bezeichnete er sich als sein eigener Sekretär – und das nicht nur, wenn ausserhalb der Bürozeiten seine Mitarbeiter in der Kurie bereits den Schreibtisch verlassen hatten. Als Erzabt und Abtprimas hielt er die Hierarchie so flach wie möglich; er konnte sich auf seine Mitarbeiter und Mitbrüder verlassen und wusste doch in der Sache, wovon er sprach – denn er brachte sich unter allen Umständen persönlich ein.

Leo XIII. prägte den italienischen Satz: Voi Benedettini «non siete un ordine, ma siete un disordine». Notker Wolf zitierte dieses Bonmot gerne. Nach päpstlicher Lesart sind die Benediktiner kein (wohl geordneter) Orden, sondern aus kirchlich-bürokratischer Sicht eher eine Unordnung! Da passte Notker Wolf gut hinein – in eine Art Feldlazarett, wie es der jetzige Papst Franziskus als einen wesentlichen Aspekt der katholischen Kirche sieht.

In einem Feldlazarett kann es kaum bürokratisch und ordentlich zugehen – da muss improvisiert werden, da müssen Einsätze geflogen, Menschen versorgt und Medikamente besorgt werden. Das Bild eines Feldlazaretts trifft die Situation, in der sich Wolf befand, besser. Nicht die einzelnen Klöster sind in Unordnung, sondern die globale Organisation der Benediktiner ist eben kein Top-down-System und daher eher langsam in der Entscheidungsfindung; berechtigte Widerstände können nicht einfach wegbefohlen werden. Die Entscheidungen, die ein Abtprimas treffen will, sind kaum je alternativlos. Diese administrative Ohnmacht ist ein häufiges Thema in den vielen Büchern, die Notker Wolf zusammen mit seinen verschiedenen Mitarbeitenden verfasst hat. Und sie war fast tägliche Erfahrung in den 16 Jahren, in denen Notker Wolf das Amt des Abtprimas ausübte.

Tatsächlich war das Jahr 2000 kein Höhepunkt in der Geschichte der Badia Primaziale di Sant’Anselmo auf dem Aventin in Rom. Die Benediktineräbte aus aller Welt hatten sich zum ordentlichen Kongress versammelt und bedrängten Notker Wolf geradezu, das höchste repräsentative Amt der Benediktiner zu übernehmen: eben das Amt des Abtprimas. Dieses Amt ist alles andere als ein glanzvoller Chefposten!

Wolf selbst, aber auch die Mitbrüder der Kongregation von St. Ottilien waren nicht besonders glücklich darüber, dass der weltgewandte Erzabt eine neue Aufgabe in Rom übernehmen sollte. Doch am Ende blieb der Wunsch der rund 250 Äbte kein Desiderat – Notker Wolf wurde mit beeindruckender Mehrheit zum Abtprimas gewählt. Auch in späteren Wahlgängen (2008 sowie 2012) blieben vereinzelte Mitbewerber weit abgeschlagen.

Stolz war Notker Wolf immer darauf, dass diese Wahl keiner Bestätigung durch den Vatikan oder gar durch den Papst selbst bedurfte; die geradezu basisdemokratische Wahl durch die aus aller Welt angereisten Äbte war ihm Auftrag genug; diese Wahl war ihm eine weitere Legitimation, nicht nach höheren Weihen und Ämtern in der Kirche zu streben. Nicht selten vergessen Kleriker ihren Auftrag und nutzen jede sich bietende Gelegenheit, um auf der Karriereleiter nach oben zu klettern – zumindest ab einer gewissen Weihestufe scheint dies keine Seltenheit zu sein. Wolf kommentierte solche Haltungen stets schelmisch: «Und ist das Mönchlein noch so klein, so möcht’ es doch gern ein Äbtlein sein.» Diese Haltung war ihm nicht nur bei Mönchen aufgefallen!

Vor seiner Zeit in Rom war Notker Wolf 23 Jahre lang als Nachfolger von Viktor Josef Dammertz Erzabt von St. Ottilien. In dieser Funktion wirkte er auch als Abtpräses der Kongregation der Missionsbenediktiner von St. Ottilien. Diese Kongregation umfasste im Jahr 2023 die stolze Zahl von 23 Klöstern auf vier Kontinenten. Europa, Afrika, Asien, Nord- und Südamerika waren schon damals die Gebiete, die der Erzabt bereisen musste, um die Klostergemeinschaften zu besuchen, ihnen zuzuhören, sie zu beraten und zu ermutigen. Nie trat Notker als der grosse Besserwisser auf, nie wurde er als kleinlicher Kontrolleur aus der fernen Zentrale in St. Ottilien wahrgenommen.

Notker Wolf verstand sich weder als Mitglied einer Troika noch als Richter. Das möglicherweise pompöse Auftreten eines kleinlichen Visitators war ihm stets ein Gräuel. Notker Wolfs Selbstverständnis war eher das eines Ermöglichers, eines nicht unkritischen Begleiters und eines umsichtigen Hirten. Die Schafe müssen selbst weiden, die Aufgabe des Hirten ist es, sie nicht zu überfordern – so klang ihm immer wieder die Regel des Benedikt von Nursia in den Ohren. Seit seiner Wahl zum Erzabt der Missionskongregation von St. Ottilien im Jahr 1977 bis zum Ende seiner Amtszeit als Abtprimas der Benediktiner im Jahr 2016 hatte Notker fast 40 Jahre lang Zeit und Gelegenheit, sich in den Worten der Benediktsregel zu finden.

In jeder Amtszeit gibt es auch stürmische Phasen. Notker Wolf war kein Schönwetterkapitän. Geduldig stellte er sich allen Herausforderungen – fast Tag und Nacht war er überall auf der Welt erreichbar. Rat und Unterstützung, Engagement und Entscheidungen kamen, wenn nötig, stündlich per Mail. Verschlagenheit und Geschwätzigkeit waren Notker Wolf nie geheuer; er hat sich nicht an Intrigen und Desavouierungen beteiligt, Verhaltensweisen, die leider auch in der Kirchenpolitik an der Tagesordnung sind – wie selbst Papst Franziskus immer wieder beklagt. Im Gegenteil: Mit Schalk und Humor, manchmal auch mit scharfem Witz hielt er sich allzu aufdringliche Anfragen aller Art vom Leib.

Nicht erst seit seiner Rückkehr in sein Heimatkloster St. Ottilien wagte sich der Abtprimas der Benediktiner auch auf das politische Parkett – weniger auf das Glatteis der Parteipolitik als vielmehr auf die Ebene gesellschaftlich relevanter Sachfragen. Aus christlich-missionarischer Überzeugung und vor dem Hintergrund seiner immensen Führungserfahrung mischte er sich zunehmend in die wesentlichen Fragen ein. Seine Nähe zu den brennenden Anliegen der Menschen, vor allem der einfachen Leute, verschaffte ihm eine grosse Zuhörerschaft. Bis zuletzt setzte sich der Mönch Notker bewusst zu den Menschen, hörte ihnen mit ehrlichem Interesse zu und vermittelte ihnen seine christlichen Überzeugungen.

Bei aller kommunikativen Offenheit war Notker Wolf ein Mann alter Schule. Hochgebildet, kulturell interessiert, sprachlich äusserst begabt, musikalisch, bodenständig und selbstständig denkend lebte er in dieser Welt. Zunehmend kommentierte er Fehlentwicklungen – immer wieder erinnerte er an die überlieferten Werte und Überzeugungen des Christentums. Vor allem dort, wo er unbelehrbare Dummheit und arrogante Überheblichkeit am Werk sah – sei es in der Politik oder in der Kirche –, fand er deutliche Worte und machte er klare Aussagen.

Mit seinem Tod verliert nicht nur die Erzabtei St. Ottilien einen grossen Vorkämpfer für ein angstfreies, christlich verantwortetes Leben auf der Grundlage des Benedikt von Nursia.