Mehr als zwei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben seit dem russischen Überfall Zuflucht in Polen gefunden. Und es werden jeden Tag mehr. Das führt zu der bangen Frage, ob die Solidarität und Hilfe weiter anhalten werden.  

von Giacomo Sini

Die ersten Schatten des Abends fallen auf die endlosen Weizenfelder, die von der Autobahn, die von Krakau zur ukrainischen Grenze führt, in zwei Teile geschnitten werden. Auf der Gegenfahrbahn gibt es nur Busse, die mit der gelben und blauen Flagge gekennzeichnet sind. An Bord sind Dutzende ukrainischer Flüchtlinge auf dem Weg in grosse polnische Städte oder andere Gebiete Europas.  

«Ich bin Iraner, aber ich lebe seit Jahren in Polen. Ich bin Koch, und jetzt möchte ich in Lwiw für Flüchtlinge kochen», sagt ein Mann einem jungen Schotten, der am überfüllten Bahnhof von Prezmyśl auf eine Passage in die Ukraine wartet. «Es ist sehr kalt heute Abend! Will jemand eine schöne heisse Suppe?», fragt Karol, ein junger Pole, der von seinem Wagen eine warme Mahlzeit an die Tausende von Menschen verteilt, die weiterhin in Busse und Lieferwagen ein- und aussteigen. «Es ist das Mindeste, was ich unter diesen Umständen tun kann», sagt Karol. Nicht weit von ihm umarmen sich eine Frau und ein kleiner Junge unter Tränen. «In Kiew habe ich Filmwissenschaft studiert. Sobald der Krieg begann, suchte ich Zuflucht in Lwiw», erzählt eine Studentin, die seit Stunden in einem Korridor des Bahnhofs Prezmyśl sitzt. «Jetzt gehe ich nach Frankreich. Dort hoffe ich, einen Kurzfilm produzieren zu können, der vom Krieg in der Ukraine erzählt», sagt sie.

«Ich habe einige Zeit in Prag gearbeitet, aber als der Krieg ausbrach, beschloss ich, in mein Dorf im Süden der Ukraine zurückzukehren», berichtet Anna, 29. «Mein Land hat keine strategischen militärischen Punkte, aber es ist nichts mehr übrig. Jetzt bin ich hier auf der Flucht mit meiner Mutter und meinen beiden Tanten, meinen jüngeren Brüdern und einem Freund von ihnen», fährt sie fort und zeigt auf eine Gruppe von Menschen. «Meine Tante will zurück in die Ukraine. Wir tun aber alles, um dies zu verhindern. Meine Grosseltern sind im Dorf geblieben. Mein Vater und mein Bruder zogen in den Kampf. Ich bete jeden Tag, dass all dies enden wird und dass es ihnen gutgeht. Ich sorge mich nicht um unsere Häuser: Wir werden Zeit haben, neue zu bauen. Ich wünsche mir nur, die Menschen könnten gerettet werden.»  

Das Pfeifen eines Zuges in der Ferne kündigt den Halt des Konvois in Richtung Warschau an. Drei bis vier Züge kommen in Prezmyśl pro Tag an. Es gibt mindestens 1700 Passagiere an Bord, während weitere 50 000 Flüchtlinge in Bussen anreisen. Das Theater dient als Schlafsaal. «Frau, Kinder, ältere Menschen müssen sich ausruhen. Viele von ihnen leiden an einer posttraumatischen Störung und sind erschöpft», sagt Lila Kalinowska, Innenarchitektin und Freiwillige der Union der Ukrainer in Polen. «Hier bleiben sie noch ein paar Nächte. Autos sieht man immer weniger: Seit einige unangenehme Ereignisse passiert sind, sind die Polizeikontrollen sehr streng.» Nach jüngsten Aussagen von UNICEF und UNHCR laufen Frauen, Kinder und unbegleitete Minderjährige Gefahr, Opfer von Menschenhandel zu werden. «Jetzt hoffen wir, dass diesen Machenschaften ein Riegel vorgeschoben wurde, denn es ist wirklich schrecklich», sagt Kalinowska.  

In Korczowa, nördlich von Prezmyśl, gibt es ein Einkaufszentrum, das zu einem Willkommenspunkt umfunktioniert wurde. «Es ist sehr schwierig, all diese grossen Familien zusammenzuhalten», erklärt Ignacy Jozwiak, Aktivist und Forscher an der Universität Warschau, im Gespräch mit einer jungen ukrainischen Roma. In Medyka, ein kleines Dorf an der Grenze zur Ukraine, stehen humanitäre Organisationen aus der ganzen Welt zur Unterstützung von Flüchtlingen bereit. Am Grenzübergang weint ein Mann und kehrt in die Ukraine zurück, während eine Frau still dasteht und ihm nachschaut, bis er verschwunden ist.  

Nach dem Einreisen in die Ukraine verändert sich die Landschaft schnell. In Shehyni, fünf Kilometer von Polen entfernt, haben die Kinder aufgehört, zur Schule zu gehen, und die Wachhunde in den Gärten bellen nicht mehr.  «Strom gibt es oft nur drei Stunden am Tag. Es fehlt an Nahrung, Wasser und Medizin», sagt Pater Ryszard Pedzimaz, ein polnischer Priester der Pfarrei St. Joseph zwischen Shehyni und Volytsya. «Das ist unsere humanitäre Hilfe», ergänzt er und zeigt auf die Kisten voller Medikamente und Kleidung. «Die Menschen hier flüchten nicht. Es gibt keine Verbindungen in die Stadt.»  

Laut einem Bericht des United Nations Development Programme besteht die Gefahr, dass, hält der Krieg noch länger an, weitere 62 Prozent der ukrainischen Bevölkerung verarmen. «Seit Beginn des Krieges sind Tausende von Menschen in Shehyni angekommen. Es gab schwangere Frauen und Kinder, die 17 Kilometer zu Fuss im Frost gelaufen waren», erinnert sich Pater Ryszard. «Hin und wieder begleite ich Menschen zur polnische Grenze.» 

Es ist fast Mittag. An der polnischen Grenze wartet eine Menschenschlange von mehreren hundert Metern. «Ich habe mein Zuhause verloren», sagt ein 40-jähriger Mann, der dank einer Sondergenehmigung darauf wartet, die Ukraine zu verlassen. «Wir kommen aus Khernihiv. Die Bomben haben alles dem Erdboden gleichgemacht», fügt seine Frau an, die ein Baby auf dem Arm trägt. «Jetzt geht es nach Deutschland. Dort erwartet uns ein neues Leben», sagt Ivan. Nach vier Stunden waren sie endlich in Polen angelangt. Ein paar Schritte von der Grenze entfernt verteilen Freiwillige heisse Schokolade und Stofftiere. John Lennons Song Imagine erklingt auf einem Klavier in der Nähe eines Lagerfeuers, das von Freiwilligen entzündet wurde, um die Kälte zu bekämpfen.